Stumme Minuten

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HansPeter
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Stumme Minuten

Beitrag von HansPeter »

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Stumme Minuten

24. Januar 2010

Das Zugabteil ist noch fast leer an diesem frühen Herbstmorgen, was mir nur recht ist, so kann ich die Eisenbahnfahrt geniessen. Auf dem gegenüberliegenden Geleise fährt ein Zug ein. Die schwere Lock schiebt ein Rumpeln und Vibrieren vor sich hin, im Schlepp ebenso schwere Wagen nach. Menschenschlangen stehen im Zwischengang, bereit zum Aussteigen. Jeder möchte der Erste sein, eine menschliche Angewohnheit. So zieht dann draußen auf dem Perron es eine grosse Menge Menschen in Richtung Ausgang. Dazwischen Menschen, die zum Einsteigen in den eingefahrenen Zug bereit stehen. Umarmungen und Küsse, Tränen und Lächeln von Wegreisenden. Winken und Rufen, Umarmen und Küssen von Ankommenden. Durchsagen dringen in Wortfetzen in mein Zugabteil. Ein Kommen und Gehen draußen auf dem Perron, Ruhe hier im Wagen. Nur ab und an das Rascheln einer Zeitung, die umgeblättert wird.

Doch die angenehm dumpfe Ruhe im Abteil wird kurz vor der Abfahrt durch eine ausgelassene Schulklasse jäh unterbrochen. Lachend und schwatzend, voller Übermut stürzt sie in munterem durcheinander ihren Wunschsitzplätzen im Wagen zu. In dieses überhitzte Treiben, das voller Freude über ihren Schulausflug entsteht, mischt sich nun das metallische, rhythmische Fahrgeräusch des anfahrenden Zuges. Ein leichtes hin und her Wiegen über Weichen und Kreuzungen, das sich allmählich in ein ruhiges, gleichmassig dumpfes Rattern auflöst. Draußen flitzen in rascher Abfolge Fahrleitungsmaste, nahe stehende Bäume und Häuser vorbei. In dessen sich die Hügel, Wälder und Häusergruppen in der Ferne nur langsam aus dem Blickfeld meines Fensters entfernen. Meine Gedanken folgen meinen Blicken, die sich in die vorüber ziehende Landschaft verlieren.

Die Schüler scheinen sich beruhigt zu haben, ab und zu dringen einige Wortfetzen oder Lacher an mein Ohr. Die Zeit zog dahin wie die Landschaft vor meinen Augen. Die Zeit, das unbekannte Wesen...

Die Wahrheit steckt im Kleinen,
die Zeit schreitet unaufhörlich in die Weite des Universums
und wir folgen ihr.

Die Zeit ist unabdingbar, die Wahrheit auch,
das Echo kommt aus dem Universum.
Wenn wir dort angelangt sind, wissen wir mehr,
mehr über die Zeit und deren Wahrheit.
Unsere Seele wird sich in die Unendlichkeit verlieren...
und wir mit ihr.


Der gleichmäßige Gesang der rollenden Räder wird nun durch das hin und her Wiegen abgelöst. Weichen und Kreuzungen werden überfahren. Der hohle Klang einer Flussbrücke, dann wieder das Rattern und Rumpeln über Schienenstränge die kreuzen, verzweigen und zusammenführen. Der Zug wird langsamer. Parallel fährt ebenfalls ein Zug dem Bahnhof entgegen, mal ein wenig schneller als wir, dann wieder langsamer. Menschen schauen sich gegenseitig an, die einen lächeln oder schicken ein freundliches Nicken herüber. Da winkt ein freudestrahlendes Kind, das seine Nase an der Fensterscheibe platt drückt. Dann trennen sich die beiden Züge wieder, um auf verschiednen Perrons in den Bahnhof einzufahren. Während dieser Einfahrt sind auch die Schüler wieder lauter geworden und drängeln dem Ausgang zu. Erwartungsvoll und neugierig, wie ihre Reise wohl nun weitergehen wird. Draußen auf dem Bahnsteig stehen nur wenig Menschen, Lautsprecherdurchsagen dröhnen mit einem kalten Echo aus der großen Bahnhofhalle, Bremsen quietschen und mit einem kurzen, aber heftigen Ruck steht der Zug still. Das muntere Durcheinander der Schüler verklingt und eine fast unheimliche Ruhe macht sich hier im Wagen breit.

Die Hoffnung, dass sich im gegenüberliegenden Abteil wiederum niemand niederlässt verblasst. Noch während sich der Zug nun wieder langsam in Bewegung setzt, macht es sich ein jüngeres Paar in den Sitzbänken bequem. Ihr Reisegepäck ist schnell verstaut. Ruhig und ohne Worte sitzen sie sich gegenüber, beide ihren Blick hinaus in die vorüber ziehende Landschaft gerichtet. Er das Kommende sehend, sie das Vergangene. Stumme Minuten verfließen so zu einer stummen Stunde. Ab und zu kreuzen sich ihre Blick, ein schwaches Lächeln huscht über ihre Gesichter, das aber so schnell wie es gekommen war, wieder verschwindet und einem gleichgültigen Gesichtsausdruck platz macht. Ihre Augen suchen wieder das Weite in der Landschaft. Was mag in ihren Köpfen wohl vor sich gehen? Er das Kommende sehend, sie das Vergangene?

Auch ich lass wieder meinen Blick in die Ferne schweifen, meinen Gedanken freien Lauf gewähren...

Der Herbst ist die Blüte des Sommers,
entstanden aus einer erwärmenden Liebschaft
aus Winter und Frühling.
Denn ohne diese würde dem Herbst der goldene Glanz fehlen.


Und so ist es auch, die Farben der überschwänglichen Blättervielfalt der Bäume sind großartig. Da und dort in den Rebhängen werden noch Trauben gelesen, obwohl es schon gegen Ende Oktober geht. Während über dem Fluss, der nun eine Zeit lang uns begleitet, ein Hauch von Dunst sich breit macht, strahlt aus dem tiefem blau des Himmels eine wärmende Sonne, von der man sich sehr gerne ein wenig verwöhnen lässt.

Das Paar im gegenüber liegenden Abteil schweigt sich immer noch aus. Aus stummen Stunden werden wieder stumme Minuten, während er das Kommende sieht und sie das Vergangene...



© Hans-Peter Zürcher
Ich schätze es wenn meine Mitmenschen glücklich sind.
Das macht wiederum auch mich glücklich.

© Hans-Peter Zürcher
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