DIE SÜNDEN DER VÄTER

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heuberger
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DIE SÜNDEN DER VÄTER

Beitrag von heuberger »

Wie das Leben so spielt


„… Ich bin ein eifriger Gott, der da heimsucht die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, die mich hassen…“
(2.Mose 20:5)

Dass wir jeglichen Missbrauch von Kindern, sei er nun körperlich oder „nur“ einfach mental, instinktiv ablehnen und streng verurteilen, wen wundert´s?
Dass dabei gleich nach der Guillotine, oder aber mindestens nach dem Kastrationsmesser gerufen wird, ist zwar reichlich übertrieben, aber durchaus verständlich.
Dass wir jedoch alte Männer, die bereits eingestanden hatten, ihre eigenen Töchter missbraucht und geschwängert zu haben, dass wir die auch noch besonders ehren sollten, dies fällt völlig aus dem Rahmen, und wird auch schlichtweg als maßlos unverschämtes Ansinnen empfunden, das geradezu nach lauter Ablehnung und Verweigerung schreit.
Und genau darum bedarf ein derartiges Trachten auch unbedingt einer näheren Erläuterung.

Es begann für mich so: Bereits als Fünfjährigem fiel mir auf, dass vor manchen alten Männern die Leute scheu zurückwichen, wenn sie durchs Dorf schlurften. Das waren bei uns so um die fünf oder sechs Personen. Den Fragen dazu wichen die Leute errötend mit niedergeschlagenem Blick aus, was die ganze Angelegenheit noch geheimnisvoller, und dadurch auch spannender, machte. So musste denn, nach gewohntem Muster, die kindliche Phantasie einspringen und eine halbwegs befriedigende Deutung des Geschehens liefern.
So viel stand fest: Es mussten ungeheuerliche und schreckliche Dinge gewesen sein, die sie begangen hatten, richtige Verbrechen, dass sie so aus der Dorfgemeinschaft ausgesondert worden waren.
Ich dachte, nach dem damaligen Stand meiner Vorstellungskraft, es seien Hexer, bzw. die Freunde und Helfer der Hexen, die bereits Hänsel und Gretel in Lebensgefahr gebracht hatten. Also hieß das bereits für uns Kinder: meidet unbedingt solche Menschen! - und wir rannten in Panik auf die andere Straßenseite, kam uns so ein Verfemter entgegen.
Ein paar Jahre gingen ins Land. Wir Kinder wuchsen heran (mit etwas Glück wuchs auch der Verstand mit). Inzwischen ging auch ich zur Schule, in eine der unteren Klassen. Damals waren viele meiner Klassenkameraden Halbwaisen. Ihre Väter waren nicht aus dem Krieg heimgekehrt.
Bei einigen von ihnen musste die Sache aber noch komplizierter gewesen sein. Denn hinter ihrem Rücken wurde sogar von Erwachsenen getuschelt, und selbst darüber hinaus schienen die Leute allgemein eine gewisse Scheu vor ihnen zu haben. Und wieder erhielt man keine richtige Antwort, wenn man fragte. Es war höchst unbefriedigend!

Wieder einige Jahre später, wir waren alle bereits mehr oder weniger in der Pubertät, fügte sich ein weiteres Steinchen zum Gesamtmosaik. Diesmal war es sogar ein richtiger Felsbrocken. Es war fürchterlich. Diese alten Großväter hatten, noch während des Krieges, vor Gericht eingeräumt, ihre eigenen Töchter missbraucht und geschwängert zu haben. Dafür kamen sie denn auch ins Gefängnis (Damals noch Zuchthaus). Was uns noch mehr in Wut brachte war aber die Tatsache, dass sie, gleich nach dem Zusammenbruch bei Kriegsende wieder auf freien Fuß gesetzt wurden und in ihre Familien zurückkehrten, als ob nichts gewesen wäre. Dieser Zynismus erboste uns ganz besonders und verletzte unser Gerechtigkeitsempfinden aufs tiefste: Unsere Schulkameraden waren also in Wirklichkeit die Kinder ihrer eigenen Großväter. Einfach ekelhaft! Das war ein furchtbarer Schlag - auch für uns Außenstehende.!
Unsere Achtung vor den Mitmenschen sank ins Bodenlose. Unsere Verachtung und Abscheu gegenüber solchen „Unreinen“ wuchs und wuchs. Was sonnten wir Kinder und Jugendlichen uns bereits damals gierig und arrogant im Glanze unserer eigenen Rechtschaffenheit!

Und nochmals gingen die Jahre ins Land. Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zum Krieg war auch die Einsicht gewachsen, dass die Gefahr, sich aufs neue gegenseitig an die Gurgel zu springen, größer wurde, wenn man nur schmollend im Winkel saß und sonst nichts aktiv tat. Also begannen zunächst höchst unbeholfene, und dadurch doch wiederum rührende Versuche, aufeinander zuzugehen.
So tauchten nach und nach im Dorf Autos auf mit französischen Kennzeichen. Sie parkten alle nach einigen Tagen nicht mehr vor den Gasthäusern, sondern vor Bauernhäusern im Dorf. Es sprach sich dann auch schnell herum, dass die Besucher ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter waren, die während des Krieges bei den Bauern als Knechte arbeiten mussten. Jetzt kamen sie nochmals, gleichsam zu Besuch, mit ihren Familien, um noch einmal an die Stätte ihres langen, unfreiwilligen Aufenthalts in einem fremden Land, während ihrer Jugend, zurückzukehren.

Und irgendwann fiel uns dann auf, dass einer unserer früheren Schulkameraden, jetzt Jungbauer, dessen Großvater auch zu den „schrecklichen Männern“ gehörte, eine frappierende Ähnlichkeit hatte mit dem Besucher aus Frankreich, der als Zwangsarbeiter auf seinem Hof gearbeitet hatte. Er sah ihm so sehr ähnlich, dass man glauben konnte, er sei ihm aus dem Gesicht geschnitten.
Da fiel es uns buchstäblich wie Schuppen von den Augen, das Brett vor dem Kopf schickte sich an, sich zu lösen, und wir mussten langsam einsehen, was wir zunächst ganz und gar nicht einsehen wollten!
Es war ein furchtbar schmerzhafter Prozess.
Gnadenlos wurden wir gezwungen, diesen unbequemen und verstörenden Tatsachen ins Auge zu sehen, und sie zur Kenntnis zu nehmen:

Unsere Schulkameraden waren in Wirklichkeit die Kinder der ehemaligen „Fremdarbeiter“.

Und als ob dies alles nicht schon genug gewesen wäre, erschien just zu der Zeit auch noch der Roman „Eine Liebe in Deutschland“ von Rolf Hochhuth. Darin wird erzählt, wie in Brombach im Wiesental (in der Nähe der Stadt Basel) ein junger polnischer „Fremdarbeiter“ eine Beziehung mit einer einheimischen Frau einging. Dieses Verhältnis wurde denunziert, und der junge Mann bezahlte mit seinem Leben, er wurde gehenkt. So erbarmungslos schrecklich und kriminell war die Justiz in Deutschland!
Und so setzte sich auch bei uns, ganz langsam, allmählich die Erkenntnis durch: Die bösen alten Männer hatten nicht ihre eigenen Töchter missbraucht und geschwängert. Sie gaben dies nur vor, um alle Beteiligten vor Verfolgung und Bestrafung und vielleicht vor noch Schlimmerem zu schützen. Dafür nahmen sie Zuchthausaufenthalt, immerwährende Schande und dauerndes soziales Ausgestoßensein auf sich. Denn, wie bereits erwähnt, stand auf sexuelle Kontakte zwischen Fremdarbeitern und deutschen Frauen die Todesstrafe für die Männer. Die daraus entstandenen Kinder wurden als „lebensunwertes Leben“ angesehen, das man getrost verrecken lassen durfte und sollte.
Was für ein furchtbares Land! Was für eine furchtbare Zeit! Was für eine furchtbare Herrschaft! Und was für furchtbare Menschen, die in ihrer Verblendung die Liebe junger Menschen als Verbrechen ansahen und denunzierten!

Den Dorfbewohnern, die sonst gewöhnlich mit voller Absicht durch bösartiges Geschwätz und Taten Unglück über andere Menschen zu bringen liebten, hier aber wirklich ihr Maul hielten, sei ihr Schweigen hoch angerechnet. Und ebenso dem damaligen Richter, der sicherlich Bescheid wusste, aber letztlich doch vor einem derartig barbarischen Urteil zurückschreckte.

Mir selbst wurde dies erst so allmählich klar. Nie mehr habe ich mich dermaßen geschämt wie damals, für mein gedankenloses und leichtfertiges Verurteilen anderer Menschen. Immerhin nahm ich mir vor, dies in Zukunft nicht mehr zu tun, und, selbst bei den schlimmsten Anschuldigungen, immer noch nach entlastenden Punkten zu suchen. Was einst im Religionsunterricht bestenfalls eine interessante moralische Problemerörterung war (Lutherischer Katechismus), und somit Übung für Gehirn und Gewissen, das sprang uns hier ohne Vorwarnung direkt an und stürzte unser Leben um.
Wir wurden gezwungen, unsere Ansichten auf den Kopf zu stellen.
Die Menschen damals aber wurden gezwungen, schnell zu handeln.
Diese Erfahrung lässt auch das unsägliche Rechtfertigungsgeschwätz für übergriffiges Ansinnen, das uns derzeit in TV-Talkshows unermüdlich gebetsmühlenhaft vorgeleiert wird, noch halbwegs erträglich erscheinen. (Allerdings sollten wir uns nicht wundern, wenn deshalb ab und zu ein Fernsehgerät aus dem Fenster fliegt. Es gibt Schlimmeres!)
Zurück zu den „Unreinen und Unberührbaren“. Die Väter aus dem ehemaligen Ostblock, vor allem Polen, Tschechen und Russen, kamen nur sehr selten, und das auch erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs um 1990. Da war es bereits zu spät, noch eine Beziehung zum eigenen Kind aufzubauen. Und so bleibt auch nur die Trauer über verpasste Chancen.

Unsere Aufgabe ist es aber, diese Erkenntnis auszusprechen, und, nach Möglichkeit auch weiterzugeben: Manchmal täuscht der erste Eindruck, und es ist naiv, sich auf den äußeren Anschein zu verlassen. Wer dies tut, handelt sich womöglich auf lange Zeit ein furchtbar schlechtes Gewissen ein. Und das nagt, - und nagt …
Tut Euch das nicht an! Erspart es Euch! Und darum: RICHTET NICHT !

Im Alten Testament heißt es sinngemäß: Ich will die Sünden der Väter vergelten an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, die mich hassen.
Gibt es da auch den anderen Spruch: Ich will die hilfreichen Taten der Väter aus Liebe vergelten bis ins dritte und vierte Glied (mindestens)?
Falls nicht, so sollte dies schleunigst als weiteres Kapitel hinzugefügt werden!
gerhard
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Re: DIE SÜNDEN DER VÄTER

Beitrag von gerhard »

Ach du lieber Gott! Also diese „bösen alten Männer“ nahmen soziale Ausgrenzung auf sich,
um zu verhindern,dass Zwangsarbeiter,in die sich deutsche Frauen verliebten und mit denen sie Sex gehabt hatten( woraus Kinder entstanden),hingerichtet wurden??

So wie etwa in den USA „damals“ schwarze Sklaven bestialisch hingerichtet wurden,mit denen sich junge weiße Frauen „eingelassen“ hatten! (Und vor ihrer Ermordung wurden diese Sklaven oft auch noch kastriert! ) Wie schrieb doch mal der genial-lustige Heinz Erhardt:“Wie beispielhaft stehst du doch da,für Menschlichkeit,oh USA!“

Diese Auffassungen zu Sexualität gehörten sowohl zu den Merkmalen der amerikanischen Sklaverei als auch zu denen der nationalsozialistischen Barbarei: Wieviele schwarze Sklavinnen wurden von ihren „Besitzern“ geschwängert!(und die Kinder dann gesellschaftlich ausgegrenzt!)
Und „woanders“? Als die japanische Armee im 2.Weltkrieg in viele asiatische Länder einfiel,wurden unzählige koreanische,thailändische etc. „Trostfrauen“ vergewaltigt -die Frauen wie die Kinder wurden in vielen Fällen dann arg diskriminiert - so wie dies Frauen erging,die in der Nachkriegszeit“Ami-Bräute“ waren: und wenn die „Amis“ Afroamerikaner waren, hatten die Kinder dann auch mit arger Ausgrenzung zu rechnen!

Zurück zu den Nazis! Da fällt mir leider vieles ein: dass,immerhin noch was Positives,Mütter und Kinder von“Kriegsvätern“besondere Fürsorge bekamen -d.h.von Wehrmachtssoldaten,von denen Frauen Kinder bekamen - die dann aber an der Front starben!
Schlimmer war die strikte Todesstrafe für Abtreibungen bei „arischen“Frauen - bei gleichzeitig ausdrücklich erwünschten Abtreibungen bei den“slawischen Untermenschen“. Und ganz arg die gezielte Menschenzucht in den Himmler unterstehenden Lebensbornheimen:geraubte Mädchen,die etwa mit SS-Männern „gepaart“ wurden!


Dem „Umgang“ mit Frauen,die sich in „Fremdarbeiter“verliebt hatten(und mit diesen „Fremdarbeitern“),bin ich in einem erschütternden Film begegnet: dieser Film“Sidonie“ beruht auf dem Buch“Abschied von Sidonie“des österreichischen Autors Erich Hackl und erzählt eine wahre Geschichte:eine Familie nahm sich liebevoll eines „Zigeunermädchens“an -das ihnen zuletzt weggenommen wurde: schrecklich weinend wird das Mädchen den Pflegeeltern entrissen und zu den „richtigen“Eltern gebracht- und mit diesen ermordet!!
Aber zuvor gibt es eine Szene,in der die liebevolle Pflegemutter verhindern will,dass Sidonie etwas Grausames zu sehen bekommt: die überaus entwürdigende Art,in der eine junge Frau,die mit einem „Fremdarbeiter zusammen“ war,durchs Dorf getrieben wird!!
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