DIE ZERSTREUTE GROSSMUTTER

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heuberger
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DIE ZERSTREUTE GROSSMUTTER

Beitrag von heuberger »

WENN ALTE LADIES REISEN
(Für B.P. und L.B. zur freundlichen Erinnerung)

Wie gerne verwenden wir in unserem täglichen Leben leichtsinnig wohltönende Begriffe, ohne uns über die Möglichkeit einer Irreführung, und deren Tragweite, auch nur im geringsten Gedanken zu machen. Dazu gehören, durch exzessiven und aggressiven Gebrauch aufgeblasen, auch solche Sprachmonster wie „Willkommenskultur“, „Veggieday“, „Religionsfreiheit“, ohne die vollständigen kollektiven gedanklichen Verknüpfungen mit einzubeziehen, u.a. Freundlichkeit der amerikanischen Ureinwohner den weißen Neuankömmlingen gegenüber, mit allen Konsequenzen, oder die unsäglichen „Eintopfsonntage“ der unseligen Nazizeit, oder auch die Tatsache, dass Religionsfreiheit eben auch Freiheit von Religion bedeuten kann.

Es geht aber auch ein paar Nummern kleiner und harmloser, etwa beim beliebten Klischee vom „alten, zerstreuten Professor“. Dazu fallen mir auf Anhieb zwei hübsche Beispiele ein:

1. Ein alter Professor, vielleicht war es Imanuel Kant, der Philosoph, der wartete am Morgen auf sein Frühstücksei. Da kam seine Haushälterin herein und meinte, sie habe am gestrigen Tag beim Einkaufen auf dem Markt etwas Wichtiges vergessen, zu besorgen, drum müsse sie jetzt gleich nochmals unbedingt dort hin.
„Grämt Euch aber nicht drum, Herr Professor, ich habe für Euer Frühstücksei das Wasser zum Kochen aufgesetzt, es siedet bereits. Hier gebe ich Euch das rohe Ei in die linke Hand, dazu Eure Taschenuhr in die rechte. Sobald das Wasser kocht, gebt Ihr das Ei hinein, lasst es kochen, und nach 4 Minuten ist es außen hart, innen das Eigelb ist aber noch flüssig, so, wie Ihr es besonders gerne mögt. Dann nehmt Ihr das Ei heraus, schreckt es im kalten Wasser ab, und esst es. Und anschließend habt Ihr Zeit, Eure Gedanken für die morgige Vorlesung niederzuschreiben. Also, merkt Euch, bitte, nach fünf Minuten das Ei herausnehmen.“
Der Professor versprach, genau nach ihrer Anweisung zu handeln. Da machte sie sich getrost auf den Weg zum Markt.
Als sie nach etwa eineinhalb Stunden zurückkam, fand sie den Professor, am Herde stehend, das Ei in der linken Hand anstarrend, die Uhr im kochenden Wasser liegend. Auf dem Küchentisch daneben aber lag das fertige Manuskript der Vorlesung für den nächsten Tag.

2. Über Louis Pasteur, den großen französischen Physiker und Chemiker, den Entdecker der Mikroben und somit der Ursache für die Infektionskrankheiten, habe ich diese Geschichte gehört: Er war bei einer vornehmen Gesellschaft zum Essen eingeladen. Dort hielt er einen Vortrag über seine Entdeckungen. Die Anwesenden erfuhren, wie wichtig es sei, immer auf Sauberkeit zu achten, auch in den kleinsten und nebensächlichsten Dingen. Zum Nachtisch gab es frische Kirschen. Um zu demonstrieren, was er meinte, ließ er ein großes Glas Wasser kommen. Dann fasste er jede Kirsche am Stiel, tauchte die Frucht mehrere Male ins Wasser, schlenkerte sie mehrmals hin und her, schüttelte sie ab und aß sie. Dabei erklärte er anschaulich, wie die Mikroben, die überall auf der Außenhaut der Früchte säßen, abgewaschen würden, so dass diese nun keimfrei seien und bedenkenlos verzehrt werden könnten. Das tat er denn auch mit großem Appetit, und forderte die Anwesenden auf, es ihm gleichzutun.
Als er die letzte Kirsche gegessen hatte, trank er das Glas Wasser hintennach noch aus.

Soweit die Beispiele der zerstreuten Professoren. Aber auch diese Spur kann uns in die Irre führen, wie unsere Geschichte zeigt. Dass es sich dabei genaugenommen um eine „zerstreute Großmutter“ handelt, macht das ganze vielleicht aber doch etwas familiärer.
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Sie hatten überlebt, beinahe die ganze Familie Pryor. Die Großmutter, die Eltern, Tim und Bridget, deren Sohn Benjamin, genannt Ben, sowie die Zwillinge Tom und Sally, die Nachzügler. Nur der Großvater hatte die Strapazen nicht überstanden - vielleicht hatte er auch einfach nicht mehr gewollt.
Als die andauernden deutschen Luftangriffe auf London an keine Ruhe mehr denken ließen, geschweige denn an Sicherheit, und als Nacht für Nacht ganze Stadtviertel in Schutt und Asche gebombt wurden, beschlossen die Eltern schweren Herzens, und mit einem etwas schlechten Gewissen, zu den Urgroßeltern aufs Land in der Nähe der Stadt zu ziehen. Immerhin waren das Königspaar mit den beiden Prinzessinnen, und der Premierminister in der gefährdeten Stadt geblieben, auch, um den terrorisierten Londonern Mut zu machen.
So musste der Großvater mit seinem alten Auto jeden Morgen seinen Sohn Tim und Ben, seinen Enkel, in die Stadt fahren, den einen zur Arbeit, den anderen in die Schule. Der Teufel mochte wissen, wo er dazu das viele, rationierte Benzin auftrieb. Das blieb sein Geheimnis.
So hielt er auch wieder eines Morgens an der Schule, um Ben aussteigen zu lassen. Gerade wollte er davonfahren, als der Junge noch einmal winkend aus der engen Pforte in der hohen Mauer, die den Schulhof von der Straße trennte, herausrannte, und seinem Großvater wild gestikulierend etwas zurief. Da hielt der nochmals an, stieg aus und hörte hinter der Mauer lauten Lärm von vielen Kindern.
Als er den Schulhof betrat, sah er sogleich die Ursache: Die eine Seite des Schulhausdaches war eingestürzt, und Qualm stieg aus den Fenstern, deren Scheiben zerborsten waren. Die Lehrkräfte, allen voran der Direktor, versuchten vergeblich, Ordnung in das Chaos zu bringen, aber die mehr als hundert Jungen ließen sich nicht bändigen. Sie warfen ihre Schultaschen in die Luft, rannten umher, lachten und schrien aus vollem Hals.
Der Hausmeister erklärte dem Großvater, dass bei dem Angriff vergangene Nacht eine deutsche Fliegerbombe das Schulgebäude getroffen hatte und bis in den Keller hinab durchgebrochen war, bevor sie explodierte. Das Gebäude musste abgerissen werden für einen Neubau, und bis dahin fiele dann wohl der Unterricht aus. Jetzt verstand der Großvater auch, was und warum die Jungen, die Hoffnung und die Zukunft Großbritanniens, voller Begeisterung immer wieder riefen:
" FÜHRER, WIR DANKEN DIR! FÜHRER, WIR DANKEN DIR !" - und das auf deutsch. ( Sie hatten in der Wochenschau im Kino die tobenden Massen im wild gewordenen Deutschland gesehen ).
Da musste sich der Großvater auf eine Parkbank im Hof setzen. Er hielt sich die Seiten und quiekte vor Lachen. Erst als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, ging er zum Direktor und meldete seinen Enkel von der Schule ab, wobei er darauf achten musste, einen seriösen und ernsten Eindruck zu machen.

Schließlich ging aber doch auch dieser Krieg einmal zu Ende, und man konnte sich dem mühsamen Wiederaufbau zuwenden.
Wenden wir uns daher auch der Großmutter zu, Mrs. Pryor. Sie war es, die den ganzen Krieg über, sozusagen als ruhender Pol, für den Zusammenhalt der Familie gesorgt hatte, das hieß, Vorräte auftreiben und horten, Trost zusprechen, viele Dinge des täglichen Lebens selber reparieren, bzw. herstellen. Sie entwickelte sich zu einer Fachfrau für Logistik, deren Wissen und Fähigkeiten gerne von allen Freunden, Nachbarn und sonstigen Bekannten in Anspruch genommen wurden.
Wollte man ihren Charakter und ihr Verhalten näher beschreiben, so hätte am besten dieser Vergleich zugetroffen:
Schrullig wie Mrs. Wimmerforce aus den "Ladykillers", die sämtliche Angriffe auf sich und ihre Weltsicht überstand, dank ihres beharrlichen Festhaltens an alten, überkommenen Denkweisen, Verhaltensmustern und Einsichten, bei gleichzeitig höchst erstaunlicher Fähigkeit, sich widrigen Gegebenheiten klaglos anzupassen. Man hätte dies auch als Sturheit beschreiben können, wobei nie ganz klar wurde, war sie jetzt wirklich dermaßen naiv bis hin zur „Blauäugigkeit“, oder verhielt sie sich so mit einem Augenzwinkern?
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So nach und nach wurden die Zeiten wieder normaler, auch wenn man den Gürtel immer noch sehr eng schnallen musste. Ein Jahr nach Kriegsende träumte Mrs. Pryor wieder von einer Reise in die Schweiz. Sie machte bereits konkrete Pläne.

Da starb ihr Mann, völlig unerwartet. Es mussten viele Entscheidungen getroffen werden. Und so vergingen der Sommer und der Herbst, und die ganze Reise wurde auf das nächste Frühjahr verschoben – nur verschoben, nicht aufgehoben.
Und es wurde Winter. Advent und Weihnachten kamen und vergingen wieder, es wurde Neujahr, auch der Januar und der Februar vergingen.
Im März machte Mrs. Pryor wieder konkrete Pläne für ihre Reise.
Ihr Sohn Tim und Ihr Enkel Ben sollten sie begleiten, während Bridget, ihre Schwiegertochter, mit den Zwillingen zuhause blieb. Die Kinder waren noch zu klein für eine derart lange und beschwerliche Reise; und außerdem war die Familie seit dem Krieg nicht mehr so begütert wie vorher. Da musste manchmal ordentlich gespart werden.
Die Reise wurde für den Mai geplant. Da wäre auch hoch im Gebirge bereits der Frühling eingezogen, so dass wenigstens tagsüber erträgliche Temperaturen herrschten. Und so wurden denn eifrig Vorbereitungen für die Reise getroffen. Alles musste bis in die kleinste Einzelheit geplant sein. Denn damals gab es noch nicht die Möglichkeit, Dinge, die man benötigte, aber zu Hause vergessen hatte, einfach im Dorf einzukaufen. Die musste man schon mitbringen.

Schließlich ging die Fahrt los, zunächst mit dem Zug von London bis zur Küste. Überall in den Städten standen die Ruinen. Von Dover ging es weiter mit der Fähre nach Calais. Hier in Frankreich sahen die Städte noch trostloser aus als im Süden Englands. Wohin man auch blickte, nur Ruinen, nichts als Ruinen, notdürftig mit Brettern gegen die Witterung geschützt. Man sah nur wenige Menschen, bleich und verhärmt, dazu schlecht gekleidet, ihren Geschäften nachgehen. Es bot sich ein Bild der Not, der Armut und des Hungers. Da brauchte man sich beileibe nicht zu wundern, wenn Wut und Zorn aufkamen. Paris selber machte noch den besten Eindruck. Zwar war die Stadt auch grau, aber unzerstört, und man konnte sehen, dass alle Mittel für Wiederaufbau und Modernisierung bevorzugt in die Hauptstadt flossen. Auch die Menschen schienen hier eine Spur besser gekleidet zu sein, so dass vergangene und künftige Eleganz zumindest zu ahnen war. Dann ging die Fahrt weiter, von Paris nach Basel.
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Noch einmal in diesem Leben wollte Mrs. Pryor die Stätten ihrer unbeschwerten Jugend und jungen Ehe besuchen, und ihre damalige Freundin.
Sie wollte einfach nochmals in die Schweiz, genau, nach La Comballaz, hoch in den Bergen gelegen, wo sie in ihren noch jungen Jahren jeden Sommer ein paar Wochen verbrachte. Dort wollte sie auch ihre alte Freundin, Madame Paccaud noch einmal wiedersehen.
Mit dieser hatte es auch so seine besondere Bewandtnis. Sie wurde in Fahrnau im Wiesental geboren, hatte mindestens zwei Brüder, die Handwerker wurden. Sie selbst machte eine Ausbildung zur Gouvernante und Lehrerin. Über die näheren Umstände ihres für damalige Zeiten völlig ungewöhnlichen Werdegangs ist uns bis auf den heutigen Tag nicht viel bekannt, außer, dass sie der anthroposophischen Bewegung Rudolf Steiners nahestand, die sich damals in Dornach bei Basel niederließ. Die junge Frau saß also buchstäblich nahe bei der Quelle. Mir wurde später einmal berichtet, dass sie ihre Weißwäche , nach Steiners Anleitung, immer in Vollmondnächten zum Trocknen im Garten aufhing. Die vielen Bettlaken flatterten im bleichen Mondlicht an der Leine, so, als schlichen Gespenster durch den Garten. Die Wäsche wurde auf diese Art der Behandlung aber anscheinend immer besonders leuchtend weiß. Durch Heirat hatte sie später die Schweizer Staatsbürgerschaft erworben.
Obwohl also von deutscher Herkunft, Lehrerin an einem besonders vornehmen Mädchenpensionat in Genf, und dementsprechend auch von unerbittlicher Strenge, wie Fräulein Rottenmaier in den Heidi-Romanen, und in ihrem ganzen Auftreten sehr stark an Adele Sandrock erinnernd, die damals hochangesehene große Schauspielerin, also insgesamt furchteinflößend wie ein Dragoner, und somit nach allgemeiner Ansicht unfähig zu heiterer Leichtigkeit, besaß sie dennoch einen starken Humor, der, wenn er voll ausbrach, selbst den Vergleich mit dem britischen Vorbild auszuhalten durchaus in der Lage war.
Dieses ihr schrulliges Auftreten, offenbarte aber letztlich auch ihr, sicherlich nur mühsam erworbenes, souveränes Wesen. Früher war es in den kleinen Dörfern hoch oben im Gebirge üblich, dass man vor dem Chalet die Schweizer Fahne hisste, zum Zeichen, dass die Bewohner anwesend waren und besucht werden konnten. Die weiten Entfernungen förderten ein derartiges optisches Verständigungssystem ( in jedem Haushalt gab es ein Fernglas ), genauso wie Erfindung und Einsatz des Alphorns die akustische Verständigung bei Nebel und Dunkelheit ermöglichten. Selbst das Jodeln in den Alpen und bei den Cowboys im Wilden Westen der Vereinigten Staaten diente ursprünglich demselben Zweck. Ebenso die Pfeifsprache der Guanchen, der Urbevölkerung der Kanaren.
Hier zeigt sich, dass selbst unsere großen kulturellen Errungenschaften zunächst aus ganz einfachen, alltäglichen Anlässen entstanden sind. Alles entwickelt sich. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass irgendetwas, fertig ausgebildet, sozusagen vom Himmel fiele. Dies erklärt vielleicht auch, warum ausgerechnet die kleine Schweiz die Nation ist, die bisher die meisten Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Es ist halt immer von Vorteil, auch bei den hochfliegendsten Gedanken und Plänen, niemals zu vergessen, wie klein man angefangen hat. So verliert man nie die nötige Bodenhaftung.
Nun wurde besagte Madame Paccaud des öfteren von ihren Freundinnen und Bekannten gefragt, wie es denn käme, dass bei ihr am Haus die Fahne stets kräftig im Wind flattere, wohingegen sie bei den Fragenden zuhause immer nur schlaff an der Stange herabhingen. Die Antwort fiel knapp aus: “Ça dépend de la manière de coudre.“
(Das käme ganz auf die Art an, wie sie genäht würden.)
Den Fragenden fiel die Kinnlade herab, und Madame Paccaud wunderte sich im Stillen sehr über die Leichtgläubigkeit ihrer Zuhörerinnen.
Die zweite mir bekannte Begebenheit trug sich eines Tages um die Mittagszeit zu, und wurde zu einer festen Einrichtung. Im Dorf gab es einen kleinen Laden für die alltäglichen Dinge. Geführt wurde er von Madame Auxtemps, die auch gleichzeitig die Poststelle betrieb. Ihr Mann war begeisterter, ausgebildeter Maler, der seine Kunst im Freien auszuüben pflegte, sozusagen vor Ort. Er zog immer frühmorgens los und kehrte so um die Mittagszeit wieder zurück. Und dieser Rückweg führte ihn am Haus von Madame Paccaud vorbei. Und so kehrte er jeden Tag bei ihr an. Um diese Zeit war Madame immer beim Kochen, und so konnte sie sich nicht groß um ihren Gast kümmern. Der aber zeigte ihrer kleinen Großnichte, die seit kurzem bei ihr lebte, nachdem sie vermutlich dem Vernichtungspropramm „lebensunwertes Leben“ der Nazis in Deutschland entronnen war, wie man mit Stift und Papier künstlerisch umgeht.
Schließlich zog ein verlockender Duft aus der Küche ins kleine Zimmer neben dem Salon. Monsieur Auxtemps schnupperte, bewegte deutlich die Nasenflügel und fragte:“ O, ça sent vraiment très bon. Qu´est-ce qu´il y a aujourd´hui pour manger chez vous?“ (O, das riecht wirklich sehr gut. Was gibt es denn heute bei Ihnen zu essen?). Da blieb ihr wirklich nichts anderes übrig, als ihn zum Essen einzuladen, auf dass er selber feststellen könne, was es gäbe. Die Einladung wurde mit Dank angenommen, und Monsieur Auxtemps sprach mit gutem Apetit den Speisen zu.
So allmählich wurde dies ein festes Ritual: Monsieur Auxtemps tauchte um die Mittagszeit mit Staffelei, Leinwand, Farben und Pinseln bei Madame Paccaud auf, die verzog sich zum Kochen in die Küche, er zeichnete und malte mit der Kleinen, die damals so um die 5 Jahre alt war, dann lobte er den nahrhaften Duft, der aus der Küche herüberzog, woraufhin Madame ihn einlud, am Essen teilzunehmen, was er dann auch dankend tat.
Inzwischen rätselten sie darüber, warum er nicht zuhause äße, bei seiner Frau. Die müsse sich doch Sorgen machen, dass er immer bis nach dem Mittagessen verschwunden sei.
Des Rätsels Lösung verriet mir dann später mal die Großnichte: Madame Auxtemps hatte die beiden eingeladen zum Abendessen. Als sie die dargebotenen Speisen kosteten, wurde ihnen schlagartig alles klar: Madame Auxtemps war eine äußerst liebenswürdige, freundliche, tüchtige und intelligente Frau. Aber sie hatte einen schwerwiegenden „Fehler“: Sie konnte nicht kochen, nicht im geringsten. So kam es denn zu der niemals ausgesprochenen Übereinkunft: Monsieur Auxtemps aß bei Madame Paccaud zu Mittag. (Er bezahlte mit Bildern).
Daraus kann man ersehen, dass es tatsächlich stille Abkommen gibt, oder zumindest früher mal gab, die ihre Gültigkeit hatten, obwohl niemals darüber gesprochen wurde, geschweige denn geschrieben. Somit war klar, warum Monsieur Auxtemps fremde Küchen derje-nigen seiner Frau vorzog. Madame Auxtemps war die Ausnahme von der Regel, was die Qualitäten Schweizer Köche und Köchinnen angeht.
Nun weiß ich inzwischen aus eigener Erfahrung, dass die Schweizer Küche, insbesondere die der Romandie, mit zu den vorzüglichsten der Welt gehört. Ich brauchte aber einige Zeit, um dies zu begreifen. Und das wiederum kam so: Zum ersten Mal in der Schweiz war ich im Alter von etwa 3 Jahren, im Jahr 1946. Meine Mutter musste in einem Prozess in Lausanne, wo sie ihre gesamte Jugendzeit verbracht hatte, als Zeugin aussagen. Mit einer Sondergenehmigung der französischen Militärregierung in Deutschland konnte die Reise angetreten werden.
Nun wurden wir sozusagen von Bekannten zu Bekannten zunächst weitergereicht. Überall gab es vorzügliches Essen, auch wenn ich dies damals gar nicht zu schätzen wusste. Wahrscheinlich dachten die guten Leute, dass der magere kleine Junge aus dem halb verhungerten Deutschland ordentlich hochgepäppelt werden müsse. Damit hatten die Schweizer viel Erfahrung. Zuerst mit französischen Kindern unter deutscher Besatzung, dann mit deutschen Kindern unter alliierter Besatzung. Hier hat sich das kleine Land die allergrößten Verdienste erworben. Dafür soll unser Dank auch nicht enden!
Und so wurde ich mit den allerfeinsten Speisen regelrecht gefüttert und gestopft: Schokolade, Sahne, Butter, so exotischen Früchten wie Orangen und sogar Bananen, von deren Geschmack ich bereits Wunder gehört hatte. Da mir kein Mensch irgendeine Anweisung gab, aß ich sie mitsamt der Schale.
Die geschmacklichen Wunder traten nicht ein. Aber ich selbst wunderte mich schon, dass man in der Schweiz derart fürchterliche Dinge zu essen bekam. Dazu kam noch, dass das viele fette Essen, das ich nicht gewöhnt war, von mir seinen Tribut forderte: Ich musste mich dauernd übergeben. Nie habe ich später je wieder so viel gekotzt, wie als kleines Kind damals in der Schweiz. Und so bildete sich bei mir die Ansicht heraus, dass die Schweizer schrecklich arme Leute seien, die sich kein anständiges Essen leisten konnten, und nahm mir vor, wenn wir wieder daheim wären, ein paar Pakete in die Schweiz zu schicken, mit richtigem, gutem Essen, so, wie ich´s gewöhnt war. Etwa mit „Milvanipulver“, dem Non-Plus-Ultra meiner damaligen Vorstellungen von Wohlgeschmack. Dabei handelte es sich vermutlich um irgendein Abfallprodukt aus der Vanillinzucker- und Backpulverproduktion von der BASF Ludwigshafen, oder Bayer Leverkusen, bzw. Dr. Oetker. Auf jeden Fall war das damals für mich der Gipfel der Glückseligkeit. Also, dies wollte ich den armen hungernden Schweizern schicken. - So schult man, völlig unbeabsichtigt, die Fähigkeit zur Empathie!
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Aber zurück zu unserer Geschichte.
Als der Zug schließlich in Basel angekommen war, mussten sie umsteigen, in einen Schweizer Zug.
Sie glaubten, in einer anderen Welt angekommen zu sein. Die Menschen waren gut gekleidet - und machten einen ruhigen, zufriedenen Eindruck, die Gebäude sahen heil und gepflegt aus, die ganze Welt sah bunter aus, nicht mehr so grau und trist wie noch in England oder Frankreich.
Und vor allem: DIESE WELT ROCH SO GUT! Nach edlem Parfüm - und nach echtem Bohnenkaffee. Selbst dem Enkelkind, Ben, war dies aufgefallen. Er sagte es seiner Großmutter, und die freute sich, dass er dies erleben konnte, nach all den Nöten, die sein junges Leben bereits belastet hatten, und, dass er einen Sinn für all diese Veränderungen besaß.
Und weiter ging die Fahrt, durch ein unversehrtes Land mit schönen Landschaften und ebensolchen schönen Städten. Bern, Fribourg und Romont lagen hinter den Reisenden. Kurz nach dem Bahnhof Puidoux-Chexbres kam ein etwas längerer Tunnel, und, nachdem der durchfahren war, noch ein zweiter Tunnel. Und dann trat das Ungeheuerliche ein.

Der Zug war unbemerkt in eine andere, völlig fremde Welt hinübergeglitten, wärmer, farbiger, südlicher. In Fahrtrichtung lag links die weite, blaue Fläche des Sees mit den hohen Bergen am jenseitigen Ufer, Alles in einer unglaublichen, leicht verfälschten Perspektive, so, als wollte der Zug geradewegs in den See hineinfahren.
Mrs. Pryor hatte ihre beiden Männer, die noch nie da gewesen waren, sorgfältig am Fenster platziert. Und folgerichtig entfuhr beiden ein ungläubiges: „So etwas gibt es doch gar nicht!“ Die einheimischen Fahrgäste lächelten. Sie kannten diese Reaktion der Fremden, die zum ersten Mal dieses Wunder erlebten.
Als sie sich etwas erholt hatten vom Staunen, überlegten Vater und Sohn, wie diese unglaubliche Wirkung wohl zustande käme. Und sie kamen zu dem Schluss, dass es wohl an der Streckenführung liegen müsse. Die Höhe nimmt rapide ab, es geht abwärts, und dazu kommt noch eine leichte Schräglage des Zuges; und diese doppelte Verschiebung der Fixpunkte im Raum führt denn auch zu dieser Wahrnehmung einer, im besten Sinne, „schrägen“ Welt. Ob die Erbauer die Strecke so planten, weil dies notwendig war, oder ob sie, mit einem Augenzwinkern, damals bereits an künftige Touristenströme und deren Entzücken dachten, entzieht sich unserer Kenntnis.
Und dann kam der Zug in Lausanne an.
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Auch ihre englischen Freunde lernte Madame Paccaud anlässlich eines ihrer „Streiche“ kennen.
Und das kam so: Die Familie Paccaud hatte in La Comballaz, hoch oben in den Waadtländer Alpen, ein Chalet gebaut, und zwar in der damals dort völlig neuen Fertigbauweise, zwar auch ganz aus Holz, aber dennoch in einem moderneren Stil, als man es dort seit langen Zeiten gewohnt war: So war unten vor dem Haus eine große ebenerdige Terrasse mit Zugang zum Haus durch den Keller.
Auf diese Terrasse hatte nun Madame einen großen runden Gartentisch gestellt, umgeben von mehreren Gartenstühlen. Außerdem stand da auch ein großer aufgespannter Sonnenschirm.
Und so kam es, wie es halt kommen musste. Die Familie Pryor, die in der einzigen Pension im Dorf ihren Urlaub verbrachte, kehrte von einem ausgedehnten Nachmittagsspaziergang zurück. Als sie am Haus der Paccauds vorbeikamen, sahen sie den Tisch samt Stühlen unter dem aufgespannten Sonnenschirm, die ihnen zuzurufen schienen: Kommt her, setzt euch, und lasst es euch wohl ergehen. Diese vermeintliche Einladung verfehlte natürlich nicht ihre Wirkung. So verspürte Mrs. Pryor plötzlich sehr heftige Gelüste nach Kaffee und Kuchen, und auch ihr Mann war einer Erfrischung nicht abgeneigt. Und so kamen sie buchstäblich vom rechten Weg der Gewohnheit ab, betraten die Terrasse, setzten sich an den Tisch und warteten.
Madame Paccaud saß zusammen mit ihrem Mann - der lebte damals noch - und ihrer Großnichte oben auf dem breiten, umlaufenden Balkon beim Kaffee. Als sie hörte, dass unten auf der Terrasse jemand am Tisch Platz genommen hatte, schaute sie über das Balkongeländer, und da überkam es sie. Der Teufel muss sie geritten haben, denn es ging wie ein Ruck durch sie. Sie strich ihre Kleider glatt, und aus ihren Augen blitzte der Schalk. Unternehmungslustig forderte sie ihre Tischgenossen auf, ganz ruhig zu bleiben, zog sich eine weiße Schürze über, dazu ein Häubchen auf den Kopf, und ging diensteifrig hinunter auf die Terrasse.
Dort begrüßte sie die Gäste und fragte sie nach ihrem Begehr. Die wünschten Kaffee, nachdem es hierzulande ja doch keinen anständigen Tee gäbe. Und dann fragten sie noch nach Kuchen.
Madame Paccaud antwortete, dass sie einen Zwetschgenkuchen habe, mit Sahne. Damit waren die Gäste zufrieden.
Also wurden Kaffee und Kuchen gebracht, auf den Tisch gestellt, und Madame wünschte einen angenehmen Aufenthalt.
Dann ging sie wieder nach oben.
Die Gäste ließen es sich gut schmecken. Als Madame nach etwa einer halben Stunde wieder kam und fragte, ob sie noch weitere Wünsche hätten, verneinten sie dankend und wollten nur noch bezahlen. Da klärte Madame auf, dies sei ein Privathaus, kein Café und keine Konditorei, und dass die Pryors ihre Gäste gewesen seien. Dabei freute sie sich diebisch, kicherte und strahlte übers ganze Gesicht.
Die Gäste waren zunächst platt, und die Sprache blieb ihnen weg. Aber dann fand Mrs. Pryor doch Gefallen an der merkwürdigen Art Humor, die sie gerade erlebt hatte, irgendwie mit leicht britischem Touch, und so entstand eine lebenslange Freundschaft, die jedes Jahr im Sommer erneuert wurde.
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UND DANN KAM DER KRIEG. Mit Schrecken, die man sich vorher nicht einmal vorstellen konnte. Seither wissen wir, dass wir Menschen, und zwar WIR ALLE, zu jeder Untat fähig sind. Möge die Menschheit dies niemals vergessen, und auch nicht die Tatsache, dass es keine vollständige Sicherheit gibt, und dass dies für alle Völker und Nationen gilt. Frankreich glaubte sich in trügerischer Sicherheit hinter der schützenden Maginotlinie. Ein fataler Irrtum! JEDER MENSCH KANN DAS GROSSARTIGSTE VOLLBRINGEN - UND DAS SCHRECKLICHSTE!
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In Lausanne mussten sie umsteigen, in den Zug nach Brig, der immer am Ufer des Sees entlang nach Osten fuhr. In Aigle mussten sie wieder umsteigen, in den Regionalzug nach Le Sépey, bereits hoch im Gebirge.
Und dann noch einmal umsteigen, in den Postbus, der durch ein sonderbares musikalisches Hornsignal auffiel: Oberterz – Unterquart – Tonika. Bei jeder unübersichtlichen Straßenkurve, und vor jedem Haltepunkt auf der Strecke.
Wagner verwendet ein ähnliches Signal im „Rheingold“, in der Szene, in der Thor < Donner > die Wolken zusammenziehen lässt, um einen Blitz zu erzeugen („Schwüles Gedünst - He da!“). Beim Bus handelte es sich um die drei Grundtöne des Hornsignals (die letzten drei Töne). Eine Art aufregender Weckruf, der etwas Außerordentliches erwarten lässt. Bei Wagner mündet das in einen Riesenknall (Donner), in La Comballaz verkündet´s die Ankunft an der Bushaltestelle, mit einer grandiosen Aussicht.

https://www.youtube.com/watch?v=sUrwtO9cW883

An der Bushaltestelle fielen sich die beiden Freundinnen in die Arme. An Beiden war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Acht Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen, acht lange, ereignisreiche Jahre. Es dauerte ziemlich lange, bis sie begriffen, dass dies eine Zeitspanne war, die sie nicht mehr zurückholen konnten. Besonders Mrs. Pryor bemerkte plötzlich die Beschwernisse des fortgeschrittenen Alters. Bisher hatte sie dazu überhaupt keine Zeit gehabt, zu sehr war sie beschäftigt. Und so wurde sie jetzt doch sehr nachdenklich.
Und so plätscherte die Zeit dahin. Ben, der Junge, bekam allmählich Heimweh. Er vermisste seine Kameraden und Freunde daheim. Liselotte, die Großnichte von Madame Paccaud, reichte ihm als Spielgefährtin nicht auf Dauer. Außerdem war sie für ihn mit ihren sechzehn Jahren auch viel zu alt! Er war immerhin erst vierzehn.
Auch der letzte Tag verging.
Als am nächsten Morgen Mrs. Pryor nicht rechtzeitig zum Frühstück erschien, ging Tim, der Sohn, in ihr Zimmer, um nachzusehen. Wie bereits befürchtet, fand er seine Mutter reglos im Bett liegend vor. Der Arzt wurde gerufen, aber der konnte auch nur noch feststellen, dass sie um den frühen Morgen herum aus dieser Welt fortgegangen sein musste. Jetzt war guter Rat wirklich teuer. Tim musste all sein Können, Wissen und all seinen Mut zusammennehmen, um die anstehenden Entscheidungen richtig zu treffen, die ihnen das heile Überstehen der nächsten Tage sicherten. Zuerst musste Ben, sein Sohn, informiert werden über den Verlust seiner geliebten Großmutter. Und dann musste getröstet werden.
Ganz zu schweigen von der Überführung der Leiche nach Großbritannien. Da ahnte er, dass ein Riesenproblem auf ihn zukommen würde. Zunächst wollte er sich um seinen Sohn, Ben, kümmern. Dabei fürchtete er sich am meisten vor der Trauer des Jungen. Er selber hatte kaum Erfahrung, wie man kindlichen Kummer tröstet. Sowas überließ er immer gerne seiner Frau, er hätte viel darum gegeben, sie wäre jetzt hier gewesen. Aber so musste er einfach versuchen, sein bestes zu geben.
Aber hier erlebte er so etwas wie ein kleines Wunder. Als er zurückkam, fragte ihn der Junge direkt, ob die Granny gestorben sei. Sie habe ihm etwa seit einer Woche immer wieder gesagt, dass sie wohl bald gehen müsse, und dass sie nicht wisse, ob sie es noch schaffte, rechtzeitig vorher noch nach Hause zu kommen, nach England.
Kinder leben, fühlen und denken ganz anders als Erwachsene. Oder genauer, sie leben, fühlen und denken anders, als Erwachsene sich das vorstellen, wie Kinder zu sein hätten. Daher wirken die Maßnahmen überbesorgter Eltern und Erzieher immer so lächerlich und peinlich, etwa den alten Märchen ihre Grausamkeiten zu beschneiden oder ganz zu entfernen. Dabei sind eben diese Grausamkeiten oft besonders hilfreich für die Phantasie der Kinder. Das Nichterwähnen kommt einer Unterschlagung gleich.
Die größte Angst der Kinder ist es, von ihren Eltern im Stich gelassen, gar ausgesetzt zu werden. HÄNSEL UND GRETEL!
Da steht die Hexe als Symbol für diese schreckliche Angst, die sie auffressen will. Dementsprechend bedeutet dann das Töten der Hexe ganz einfach auch das Vernichten der Angst durch Bewusstmachung und Bearbeitung.
Und noch etwas Wichtiges lernen die Kinder hier: Wirkliche Hilfe im Leben bekommen sie nur durch Menschen ihrer eigenen Generation, nicht durch Eltern oder später durch ihre Kinder. Die verstehen zumeist gar nicht, worum es geht.
ALSO, LIEBE ELTERN UND ERZIEHER, HABT EINFACH MEHR VERTRAUEN IN DIE WEISHEIT EURER KINDER! DIE HABEN IHRE EIGENEN ÄNGSTE UND SORGEN. ALSO BÜRDET IHNEN NICHT AUCH NOCH DIE EURIGEN MIT AUF!
All diese Gedanken schossen in diesem Augenblick Tim durch den Kopf. Er war seinem Sohn direkt dankbar, dass er ihm sozusagen die schwere Aufgabe des Tröstens abnahm. Ja, wenn er es genau betrachtete, wie er sich fühlte, dann wurde hier der Erwachsene durch das Kind getröstet, der Vater durch den Sohn. Manchmal geht es schon merkwürdig zu auf der Welt.
Gemeinsam überlegten sie, was als nächstes zu tun sei, denn die Zimmer in der Pension mussten am übernächsten Tag geräumt sein. So war die Abreise geplant. – Und so machte die Wirklichkeit einen dicken Strich durch diese Rechnung.
Immer klarer trat das wirkliche Problem zutage: Wohin mit der lieben Leiche?
Eine Überführung nach Großbritannien war unbezahlbar, und außerdem hätte es Wochen gedauert, wenn nicht gar Monate, bis alle notwendigen Bescheinigungen und Genehmigungen ausgefertigt gewesen wären. Allein schon der Leichentransport in einem Zinksarg, aus hygienischen Gründen. NICHT AUSZUDENKEN!
Auch eine Beerdigung an Ort und Stelle wäre sündhaft teuer gewesen, und hätte massiven Widerstand innerhalb der Familie hervorgerufen. Sie steckten tief in einem schweren Dilemma.
So saßen sie denn traurig und ratlos beisammen im Zimmer: Der Vater Tim, sein Sohn Ben und Madame Paccaud, die sofort, zusammen mit ihrer Großnichte, herbeigeeilt war, als sie über das Ableben von Mrs. Pryor verständigt worden war. Angestrengt, fast verzweifelt, beratschlagten sie und suchten nach einer Lösung, und fanden doch keine.
Dabei hatte die die ganze Zeit buchstäblich vor ihnen gestanden.
Es war Ben, der Junge, der als Erster drauf kam. Kindliches Denken ist noch nicht so sehr durch Erziehung und Ausbildung derart konditioniert, dass es nur noch schablonenhaft in genau vorgegebenen Bahnen gewagt wird. Kinder denken eben manchmal in ausgesprochen unorthodoxer und ausgefallener Art und Weise. Dem Jungen war im Chalet von Madame Paccaud, im Salon, ein Wandregal aufgefallen, auf dem ein schön verziertes Kästchen stand, neben einer Fotographie des bereits vor dem Krieg verstorbenen Monsieur Paccaud. Auf sein Nachfragen hin war ihm gesagt worden, in dem Kästchen sei die Asche von Monsieur. In der Schweiz sei so eine Hausbestattung der Asche möglich. Und da zündete bei ihm der Gedanke: So, und nur so allein ist es möglich, die Verstorbene unauffällig ( und preiswert! ) heimzubringen. Und schon machte er den Vorschlag.
Tim, sein Vater, zeigte sich zunächst schockiert über die vermeintliche Kaltherzigkeit und Kaltschnäuzigkeit seines Sohnes. Es dauerte einige Zeit, bis er verstand und akzeptieren konnte, dass dies die einzig mögliche Lösung seines Problems war.
Madame Paccaud hingegen hatte sofort begriffen und schmunzelte vor sich hin, trotz des Schmerzes über den Verlust ihrer lieben Freundin. Ein Kichern oder gar Lachen unterdrückte sie wohlerzogen, aus Rücksicht auf den inneren Zustand Tims, des Vaters. Sie zwinkerte aber aufmunternd dem Jungen zu und gab ihm mit der Hand ein Zeichen ihres Einverständnisses.
„Ça y est!“, rief sie, „Das ist die Lösung!“ Und damit gelang es ihr allmählich, auch den zögernden Tim zu überzeugen, dass dies allein die einzige Möglichkeit war, sein Problem zu lösen, Pietät hin, Respekt vor der Mutter her! So, und nur so allein, bestand eine Chance, ihr Vorhaben durchzuführen.
Und somit war ein wichtiges Etappenziel erreicht. Jetzt ging es nur noch darum, die Asche unbemerkt über zwei Grenzen zu schmuggeln. Ein schön verziertes Kästchen taugt hierzu nicht. Ebenso wenig eine Urne. So etwas erregt nur die Aufmerksamkeit der Zollbehörden.
Aber, nachdem man bereits einmal in Gedanken einen ungewöhnlichen Weg gegangen war, fiel es nicht mehr schwer, weiter auf diese Art nach einer Lösung zu suchen, etwa nach dem Leitspruch: „Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt sich´s völlig ungeniert.“, oder, passender: “Ist der erste Damm gebrochen, ham wir schon das Ziel gerochen!“ Man muss ganz einfach wagen, Undenkbares zu denken.

Es musste also ein völlig anderer, unverfänglicher Transportbehälter her. Einen, den jeder Besucher der Schweiz mit nach Hause nimmt, selbst, wenn das nicht ganz billig wird. Und, was brachte damals jeder Besucher aus der Schweiz mit? – Na?
Ja, Schokolade auch, und Käse. Aber hier: Kaffee, PULVERKAFFEE! Es galt, die Asche der teuren Verblichenen so gut mit Pulverkaffe zu vermischen, dass sie nahezu unsichtbar würde.

ERST DANN KONNTE DIE GROSSMUTTER, SOZUSAGEN ALS „NESCAFÉ“ GETARNT, DIE HEIMREISE NACH ENGLAND ANTRETEN.

Nachdem man sich etwas angefreundet hatte mit diesem ungeheuerlichen Gedanken, ging man daran, gemeinsam zu beraten, wie er am besten und am unauffälligsten in die Tat umgesetzt werden könnte.
Die SVC = Société Vaudoise de Crémation (Waadtländische Gesellschaft für Feuerbestattung), Madame Paccaud war dort Mitglied, würde die Einäscherung übernehmen; der Pfarrer, Pasteur Sieveking aus Leysin, auf der anderen Talseite, die Einsegnung und Bestattung. Er war auch für La Comballaz zuständig. Dabei sollte ihm die Vertauschung der Urne verschwiegen werden. Dies bereitete wiederum Madame Paccaud Bauchschmerzen, aber, wer A sagt, muss dann wohl oder übel auch B sagen.
Und genau so, wie besprochen, wurde auch, Punkt für Punkt, vorgegangen.
Die Urne wurde im Garten von Madame Paccaud beigesetzt.
Des Nachts wurde sie heimlich wieder ausgegraben und mit einer anderen, leeren Urne vertauscht. Man kann ja nie wissen!
Zuletzt wurde die Asche neu eingedost.
Und dann traten Tim und Ben die Rückreise an, zusammen mit ihrer Mutter, bzw. Großmutter, in der Kaffeedose.
Zuhause angekommen, wurde ein Trauergottesdienst für die Verstorbene abgehalten, anschließend wurde die Asche (samt Kaffee) heimlich im Walde verstreut.
Als zwei der Bestattungsgäste meinten: „Die arme Mrs. Pryor, was für ein furchtbares, anstrengendes Leben, und dann, was für ein schrecklicher Tod, einsam und in der Fremde.“, da stand die teure Verblichene, sozusagen im Geiste, mitten unter ihnen, lachte los und schüttelte energisch den Kopf.
"Aber nein," meinte sie vergnügt, "jetzt erst seh´ ich´s ein: Mein Leben war ein riesengroßes Fest.", oder - more distinguished - wie Miss Sophie, nach dem legendären "Dinner for one", anlässlich ihres 90. Geburtstages, zu ihrem Butler James:
" IT HAS BEEN A WONDERFUL PARTY ! - Sehr anstrengend zwar, dafür aber niemals langweilig ! "
Dabei konnte sie ein breites Grinsen nicht verbergen.
So viel zur Einsicht der Mrs. Pryor.
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Uns aber, den Zurückgebliebenen, bleibt die verblüffende Erkenntnis, dass die Redewendung von der "zerstreuten Großmutter" auch völlig neue, bislang unbekannte Bedeutungen haben kann, darunter sogar eine wörtliche.

Die verrücktesten Geschichten schreibt das Leben selbst, auch die über den Tod.

TOD, WO IST DEIN STACHEL ?
HÖLLE, WO IST DEIN SIEG ?
(1.Korinther 15:55)
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