STICHELEIEN

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heuberger
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STICHELEIEN

Beitrag von heuberger »

EIN NÄHKURS IM ADVENT ?

Ein Aufenthalt im Krankenhaus ist immer eine ernste Sache. Zumal, wenn man selber als Patient betroffen ist.
Früher pflegte man zu sagen, man müsse sich unters Messer legen. Heute neigen wir mehr zur sprachlichen Verharmlosung, gar Verniedlichung, und nennen das Ganze in trügerischer Neutralität Operation, oder noch vernebelnder einfach kurz OP. Einmal, allerdings, habe ich auch schon gelesen „Opratzion“… Ja, warum denn eigentlich nicht? Das Wort klingt genau so kratzig und widerborstig wie die Gefühle, wenn uns eine solche bevorsteht. Die haben sich denn auch kaum verändert, vielleicht etwas abgeschwächt. Aus der kindlichen Panik wurde jugendliche Angst, die sich infolge Wiederholung solcher Erlebnisse zur Furcht junger Erwachsener abmilderte, um sich endlich im Alter zur mehr oder weniger erträglichen Bangigkeit zu verfestigen.
Und dies versucht man, sich durch kuriose und skurrile Geschichten und Witze über halbwegs gelungene, oder vollständig misslungene, Operationen weiter zu verharmlosen.
Etwa auf diese Art und Weise:

In einem Operationssaal. Es ist kurz vor 12:00 Mittag. Ein Patient hat ein großes Magengeschwür und muss operiert werden.
Man hat gerade den Bauchraum geöffnet, den ganzen Magen herausgenommen und neben den Patienten gelegt.
Da schaut der operierende Professor auf die Uhr, legt das Skalpell beiseite und sagt zu seinem Team: " Meine Damen und Herren, es ist 12:00 Uhr Mittag, Zeit für das Mittagessen. Der Patient liegt in tiefer Narkose. Die hält an, bis wir wiederkommen. Guten Apetit!"
Und sie verlassen alle den OP.
Unglücklicherweise steht ein Fenster offen. Da springt von draußen her ein großer Hund herein, sieht den Magen, schnappt ihn sich und springt damit wieder zum Fenster hinaus.
Der Patient ist immer noch tief in Narkose.
Als das OP Team zurückkommt, ist der Schreck groß: Der Magen ist weg.
Bei all der Verzweiflung fällt einer alten OP-Schwester ein: " Neben dem Krankenhaus ist doch eine Pferdemetzgerei. Dort besorgen wir uns einen Magen, setzen ihn dem Patienten ein... und alles ist gut."
Was bleibt ihnen anderes übrig? Als selbst der Professor zustimmt, geht einer der Ärzte rüber in die Metzgerei, kauft einen Magen, packt ihn in seine Tasche und kehrt damit zurück ins Krankenhaus.
Dort wird der Pferdemagen dem Patienten eingesetzt, zugenäht, und dann wird der Patient in sein Zimmer zurückgebracht.
Am nächsten Morgen: Visite.
Der Professor und sein Team stellen fest, dass es dem Patienten bereits wieder hervorragend gut geht.
Sie fragen ihn, wie er sich fühle. Er meint, dass eigentlich alles ok ist.
"Haben Sie besondere Wünsche?" " Nein danke, eigentlich nicht."
"Ja, haben Sie denn keinen Hunger?" Alle spitzen die Ohren.
" Doch, habe ich, könnte ich, bitte, etwas Hafer haben, und einen Eimer Wasser?"

Man wundert sich immer wieder, auf was für krause Ideen die Menschen so kommen, um gegen eine innere Angst und Panik anzugehen. Andererseits habe ich noch nie einen Operationssaal gesehen mit Fenstern. Schon recht merkwürdig. Sowas gibt zu denken.

So hatte auch ich widersprechende Gefühle, als ich 8. Dezember 2014, einem Montagmorgen in aller Frühe, um Dreiviertel Sieben Uhr, bang, im Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg an der Pforte ankam. Freundlich wurde ich empfangen und auf die Krankenstation geschickt. Dort wurde ich dann auf die OP vorbereitet.
Die Welt sieht ganz anders aus, wenn man sie, im Bett liegend, betrachtet, auf dem Weg zum Anästhesieraum. Die Perspektive ändert sich da erheblich.
Im Vorgespräch war mir zugesichert worden, stationäre Aufnahme für 2 bis 3 Tage, dann Weiterbehandlung ambulant.
Ich überlegte schon passende Argumente, falls man mich länger stationär aufnehmen wollte - Privatpatienten sehen sich selbst gerne in der Rolle einer Milchkuh, die von skrupellosen Krankenhaus-verwaltungen bevorzugt gemolken werden - und kam darauf, mit spektakulärer Flucht aus dem Krankenzimmer zu drohen, indem ich unter den Augen der Öffentlichkeit aus dem Fenster in den Tod spränge, weil ich unbedingt heim wollte. Es wäre doch für eine Klinik eine äußerst schlechte Reklame, wenn die Patienten nach der Operation stürben, und zwar an Heimweh, anstatt an postoperativen Komplikationen. Wie stillos! Einfach nur peinlich!

Erwartet hatte ich eine verhältnismäßig einfache Operation am linken Arm, und am Handgelenk, um das lästige Gefühl des Einschlafens der Hand und der damit verbundenen Schwächung der Funktion zu beheben, oder zumindest aufzuhalten.
Es geschahen jedoch wunderliche Dinge: eine aufregende und abenteuerliche Reise, sozusagen ein Horrortrip, in mir bisher völlig fremde und unbekannte Welten, eine Achterbahnfahrt durch mehrere Realitäten.
Es fing alles recht beklemmend, aber doch harmlos an. Als Patient ist man grundsätzlich in der passiven, duldenden und leidenden Rolle, voller Unbehagen und Bangigkeit. Als Arzt fürchtet man sich vielleicht vor der Angst des Patienten.
Nachdem die ersten, höchst unangenehmen Betäubungsspritzen gesetzt waren, wurde ich in den Operationssaal geschoben. Dort wurde ich vom Operationsteam begrüßt, die Vorgehensweise wurde nochmals erklärt, dann wurde der zu behandelnde Arm ausgestreckt, und eine Art Sichtschutz in etwa 20 cm Abstand über das Gesicht gezogen. Es war so etwas wie ein milchig lichtdurchlässiger, aber undurchsichtiger Duschvorhang mit blauen Blumen. Dann spürte ich, wie der ganze Arm mit einer kalten Flüssigkeit großzügig ausgepinselt wurde. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Desinfektionsmittel. Die Kälte rührte womöglich von der raschen Verdunstung her. Es könnte Alkohol gewesen sein. Dann wurde noch getestet, ob ein restliches Schmerzempfinden vorhanden wäre. Dem war nicht so. Nur das Druckempfinden war vorhanden.
Dann konnte es losgehen. Und es ging los. Ich spürte jeden Druck, aber keinerlei Schmerz. Außerdem hatte ich freien Blick auf die große Uhr, die an der Wand hing. Vermutlich wurde mir etwas gespritzt, das mein Zeitgefühl überlistete, so dass ich empfand, die gesamte OP sei in relativ kurzer Zeit vonstatten gegangen. Dennoch meinte ich nach einiger Zeit, es sei genügend operiert worden und wurde unruhig. Das Ärzteteam versicherte: „Ja, ja, wir sind bald fertig.“ Und der Narkosearzt sagte: Jetzt spritze ich noch etwas, da wird es Ihnen kurz schwummrig.“
UND ES WURDE MIR SCHWUMMRIG.
Sowas hatte ich noch nie erlebt. Dieser „Duschvorhang“ mit dem blauen Muster über mir war plötzlich unter mir und verwandelte sich in Markisen für Sonnenschutz auf Balkonen. Alles geschah in der Straße, in der ich gerade zu Besuch war. Ich sah mich, von oben auf die Stadt herabsinken. Es war ein unheimliches Erlebnis, in seiner Ungewohntheit höchst beängstigend und verstörend. Ich meinte damals, aus dem Weltall zu kommen und auf einer fremden Welt zu landen. Diese Welt bekam auch einen Namen - Es war für mich der Mars.
Erschreckend neu war dies, nichts derartiges bisher Bekanntes, daher auch keinerlei Möglichkeit, das Gesehene irgendwie einzuordnen, und sei es auch nur ansatzweise.
Ein banges Gefühl des Kontrollverlusts beschlich mich. Etwas geschah mit mir, das ich nicht verstand. Und dies war beängstigend.
Einer der Ärzte meinte während der OP, dass mein Herz nicht das stärkste sei, denn der Blutdruck sei plötzlich sehr stark abgefallen. Leider habe ich da nicht weiter nachgefragt, was im einzelnen los war. Denn dieses merkwürdige Erlebnis wirkte lange nach. Zuerst dachte ich, ich sei womöglich gestorben gewesen, aber es scheint kein Nahtoderlebnis gewesen zu sein, denn ich lag immer auf meinem Rücken, schwebte nicht über mir, geschweige denn an der Decke. Außerdem konnte ich nicht durch geschlossene Türen und Wände gehen. Dies erst wäre wohl der gegebene Anlass, sich ernsthaft Gedanken zu machen.
ES WAR KEIN NAHTODERLEBNIS.
ES WAR EIN „NACHGEBURTSERLEBNIS“.
So verlassen, ausgestoßen und weggeworfen muss sich ein Neugeborenes fühlen. Nichts Vertrautes mehr. Keine Regel gilt noch. Alles ist neu und fremd, es gibt im Moment keine Vergleichsmöglichkeiten. Ein schrecklicher Zustand!
Alle diese Überlegungen kamen aber erst später, als ich wieder „voll bei mir“ war.
Als ich allmählich wieder „vom Mars“ zurückkehrte und langsam etwas klarer im Kopf wurde, verstand ich auch die Gespräche, die die Handelnden führten, genauer. Dabei fiel mir die große Höflichkeit auf, mit der die Beteiligten miteinander umgingen. Jede Anweisung und jede Frage nach einem chirurgischen Instrument wurde mit einem „bitte“ verbunden. Früher, in meinen jungen „Revoluzzerjahren“ hätte ich so etwas glatt als „alten Zopf“ und total überflüssiges Getue peinlich berührt abgelehnt. Heute habe ich dazugelernt, merkwürdigerweise mal durch eine Talkshow im Fernsehen, bei der es darum ging, ob höfliche Umgangsformen noch zeitgemäß sind. Eingeladen war auch eine Lehrerin für Etikette und Gutes Benehmen aus Berlin, die massiv unter Beschuss durch die anderen anwesenden Fortschrittsaktivisten geriet, etwa durch die Bemerkung, wie könne man heutzutage noch an derart antiquierten Floskeln hängen und solcherlei Unsinn gar lehren. Die „Benimmtante“ antwortete mit einem einzigen Satz: „Nun, man lebt damit einfach leichter“. - Bums! - Das saß. Was konnte man schon ernsthaft einwenden gegen „Nun, man lebt damit einfach leichter“? Alles Geschwätz von wegen „uralt, überholt, zopfig“ zerstoben und weggeblasen. „Nun, man lebt damit einfach leichter“ Was für ein genialer Satz! Wir erkennen oft erst dann den Wert des Selbstverständlichen, wenn wir ihn bewusst an- und aussprechen.
Und anschließend bekam ich dann mit, wie der Professor seinen Kollegen erklärte, wie man eine Wunde wieder zunäht, nach welcher Methode, welcher Faden jeweils dabei zu verwenden, und auf welche Art die Naht zu setzen sei. Das klang vertraut und gemütlich, wie in einer Bastelstunde zur Adventszeit. Da merkte ich, dass ich auf meiner Reise wieder in unserer Wirklichkeit angekommen war, denn es war Advent, und dies zu wissen, zeigte mir, dass auch mein Gehirn wieder in gewohnter Weise arbeitete.
Seit mir in einer heftigen Diskussion einmal jemand als ultimatives Argument vorhielt, ich hätte kein Gehirn, bemühe ich mich verstärkt, Beweise oder zumindest Indizien für das Vorhandensein eines solchen zu finden (man kann ja nie wissen), von der Anfertigung einer Computer-Tomographie bis hin zur Argumentation: „ich denke, also habe ich vermutlich ein Gehirn“.
So war also eine Metamorphose vollzogen, und ich musste sie mir in der nächsten Zeit nur noch bewusst machen.
Leider nicht mitbekommen vor lauter Philosophie, Psychologie und Selbstanalyse habe ich allerdings die Lösung des Problems, welche Technik bei welcher Operation anzuwenden sei, hier, im speziellen Fall, bei Sulcus Ulnaris Syndrom: Kreuzstich- oder Petit-Point-Gobelin Stickerei? - Denn, mit diesem Wissen, könnte ich dann einfach auch leichter leben - hoffe ich doch.
Das Gefühl von Taubheit und Kribbeln habe ich nach einem Jahr immer noch in der operierten Hand. Da hat sich nichts geändert. Wirklich geändert hat sich aber etwas anderes. Die Feinmotorik wurde enorm verbessert. So kann ich jetzt mit beiden Händen zusammen eine vakuumverschweißte Tüte mit gemahlenem Kaffee aufreißen. Das konnte ich vorher nicht. Dabei weiß ich nicht, ob diese neue Fähigkeit auch eine direkte Folge der Operation ist. Indirekt schon, indem das Gehirn eine neue Strategie (er)fand, um die verlorene Fähigkeit zu ersetzen.
Wäre dies tatsächlich der Fall, so wäre an der Universität in Oldenburg tatsächlich eine völlig neue Methode der indirekten Gehirnchirurgie erfunden worden, die über die Handchirurgie läuft, sozusagen von der Hand zum Hirn.
WAHRLICH, EINE GENIALE LÖSUNG !
Herzlichen Dank für die (unbeabsichtigte?) Vermittlung dieser Erkenntnis, Herr Professor Steinsträßer
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