HALLUZINATIONEN

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heuberger
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HALLUZINATIONEN

Beitrag von heuberger »

Es war am 7.7.2014.
Bereits um 08:30 wartete ich in der Praxis des Neurologen. Seit etwa einem halben Jahr spürte ich in der linken Hand ein Kribbeln, als ob da dauernd Ameisen durchliefen. Außerdem hatte da auch die Sicherheit des Greifens ziemlich nachgelassen, so, dass beim Geschirrspülen des öfteren eine Tasse meinen Händen entglitt und auf dem Küchenboden scheppernd zu Bruch ging. Leider nur immer die Teile vom guten Geschirr. Was man selber endlich los sein wollte, musste man hinterherwerfen, um sicher zu gehen.
Der Arzt maß die Geschwindigkeit, mit der die Nerven einen elektrischen Reiz leiteten. Wie erwartet war dies links deutlich langsamer als rechts, also war eine Operation angezeigt. Zusätzlich führte mir die Untersuchung aber auch deutlich vor Augen, dass ich einer Folter kaum Widerstand entgegensetzen könnte. Die Stromimpulse empfand ich mit der Zeit in ihrer Vorhersagbarkeit als schmerzhaft. Das ist der Schrecken der Redundanz.
Und dann fragte er mich, warum ich einen Gehstock benützte. Als ich ihm sagte, vor einigen Jahren einen leichten Schlaganfall erlitten zu haben, wies er mich an, einige spezielle Bewegungen auszuführen. Danach meinte er, das sähe weniger nach Schlaganfall aus, als viel mehr nach beginnendem Morbus Parkinson.
Das war aber eine heftige Ansage. An so etwas hatte ich nie gedacht, hatte auch nie ein Zittern meiner Hände bemerkt. Dann fragte er mich noch, ob ich manchmal Wahnvorstellungen hätte, oder sonst allgemein Halluzinationen. Als ich verneinte, meinte er, das könne sich durch das Medikament ändern, welches durch ein auf die Haut geklebtes Pflaster wirkte. Er gab mir das Rezept, und ich verabschiedete mich.
Diese neue Diagnose - eigentlich zunächst nur ein Verdacht . machte mir ziemlich zu schaffen. Am nächsten Tag besorgte ich mir in der Apotheke das Pflaster. Auch hier der Hinweis auf dem Beipackzettel, dass möglicherweise Halluzinationen auftreten könnten. Dass ich gelegentlich aus den Augenwinkeln heraus tierische und menschliche Gestalten vorüberhuschen sehe, je nach Lichtverhältnissen und Hintergrund entweder als dunkle Schatten, bzw. als hellen Nebel, bedeutet mir nichts Besonderes. Solange die mich in Ruhe lassen, lass ich sie auch in Ruhe.
Also klebte ich das Pflaster nach Vorschrift auf die linke Flankenseite, setzte mich vor den Fernseher und wartete den weiteren Verlauf des Abends ab.
Es war die Zeit der Fußballweltmeistershaft in Brasilien, und genau an diesem Abend sollte das Halbfinalspiel Brasilien gegen Deutschland übertragen werden. Jetzt hatte sich die deutsche Mannschaft wacker durchgeschlagen bis hierher, manchmal allerdings auch nur aus reinem Glück. Also erwartete ich eine knappe Niederlage gegen diesen renommierten Gegner, allenfalls einen knappen Sieg, falls es der deutschen Mannschaft gelänge, sich bis in ein Elfmeterschießen durchzukämpfen. Dann, und nur dann hätten sie eine reale Chance.
Und irgendwann fiel das erste Tor - für Deutschland.
Und dann hieß es 2 : 0 - für Deutschland
und dann 3 : 0 - für Deutschland
und dann 4 : 0 - für Deutschland
Da erinnerte ich mich wieder an die Verheißung auf dem Beipackzettel und dachte so bei mir: „Donnerwetter, das wirkt aber sehr schnell!“ Das Spiel endete dann 7 : 1 Zwar war ich da längst wieder auf den Boden der Realität zurückgekehrt, aber ich konnte mir dennoch ein Grinsen nicht verkneifen.
Als ich am nächsten Morgen bei meinem Hausarzt war, erzählte ich ihm davon. Er lachte und meinte, er freue sich, dass endlich mal ein Medikament ungewollt angenehme Nebenwirkungen produziere.
Inzwischen sind eineinhalb Jahre vergangen.
Die Krankheit schreitet voran, aber ich hoffe inbrünstig, dass der ausgesprochen heitere Beginn nicht durch einen allzu mühsamen Fortgang vollständig aufgehoben wird.
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