SPÄTE GENUGTUUNG

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heuberger
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SPÄTE GENUGTUUNG

Beitrag von heuberger »

Nein, er war wahrhaftig nicht der Hellsten einer, im Gegenteil, er war wirklich strohdumm. So sehr, dass man mit Fug und Recht von ihm sagen konnte, er habe, als der liebe Gott bei der Schöpfung seinen Geschöpfen Intelligenz angeboten habe, einfach vergessen, „mir, bitte, auch“ zu rufen. Er war aber ein sehr freundlicher und lieber Mensch, lieb zu allen. Und so traf auf ihn auch die Feststellung von W. Busch voll zu (zumindest der erste Teil): „Oftmals paaret im Gemüte Dummheit sich mit Herzensgüte, während höh´re Geistesgaben meistens böse Menschen haben.“

Sein dauerndes Nichtbegreifen nervte uns Klassenkameraden gewaltig, weil wir im Unterricht nur langsam vorankamen. Dennoch ließen wir ihn zumeist in Ruhe. Nicht so seine Lehrer. Von denen haben wir damals beinahe alle als brutale Schlägertypen erlebt, die sich selbst noch in ihrer Freizeit neue Methoden sadistischer Bestrafungen kleiner Kinder auszudenken schienen. Eine besondere Variante der „Hosenspanner“ (das sind heftige Schläge mit einem dünnen Stock auf den Hintern) hatte sich der Rektor der Schule ausgedacht. In seinem Klassenzimmer stand eine Schiebetafel an der Wand, bei der zwei Tafeln nach oben, bzw. unten geschoben werden konnten. Eine geschickte Erfindung: Auf der unteren Tafel wurde geschrieben, während ein bereits fertiger Text auf der oberen Tafel stand und von den Schülern abgeschrieben werden konnte. Unser Rektor benützte sie aber auch noch auf eine andere Art und Weise: Der Delinquent musste seinen Hals auf die untere Tafel legen, dann wurde die obere nach unten gezogen, bis der Kopf eingeklemmt war, so dass sich der Rektor ausgiebig mit der Bestrafung des Schülers oder der Schülerin befassen konnte, indem er ihnen ausdauernd den Hintern versohlte, so dass sie oft noch tagelang Striemen auf dem Gesäß hatten.
Derartige öffentliche Demütigungen der Schüler durch ihre Lehrer waren damals gang und gäbe. Wir waren das gewohnt und dachten kaum an Widerstand. Von den eigenen Eltern bekam man da auch kaum Unterstützung.
Eine weitere Art der Bestrafung waren die „Tatzen“, das waren Schläge mit einer dünnen Gerte auf die Innenfläche der Hand. Anschließend war dann zumeist „Schönschreiben“ angesagt. Die Ergebnisse und deren Folgen (weitere Strafen) waren da vorprogrammiert.
Auch hier hatte sich unser Rektor weitere Gemeinheiten ausgedacht: In der Adventszeit stieg er aufs Lehrerpult, während der zu bestrafende Schüler mit ausgestreckter Hand sein Unheil erwarten musste. Dann hob er die rechte Hand mit dem dünnen Stecken und sprang vom Pult auf den Fußboden, wobei er laut sang: „Vom Himmel hoch, da komm ich her!“ und zuschlug. Der Sprung verstärkte die Wirkung des Schlages.
Die anderen Lehrer verhielten sich da etwas gemäßigter. Aber viel besser waren sie nicht! Wen nimmt es da schon wunder, dass viele Leute dieser Schülergeneration nur mit Schrecken an ihre Schulzeit zurückdenken! Ihre Kindheit war höchst angstbesetzt. Am beschämendsten ist, dass die körperliche Züchtigung der Schüler an den öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg erst in den 1970er Jahren endgültig verboten wurde

DAS GANZE BESTRAFUNGSSYSTEM WAR BARBARISCH! UND WIR REGEN UNS ZU RECHT AUF, WENN ANDERE KULTUREN DIES AUCH BEI UNS WIEDER PRAKTIZIEREN.

Unser minderbegabter Mitschüler stand besonders unter der Beobachtung seiner Lehrer, gab er ihnen doch jeden Tag willkommenen Anlass, ihre körperliche Fitness zur Schau zu stellen, indem sie ihn schlugen. Unglücklicherweise hatten ihm seine Eltern auch noch den Doppelnamen Felix-Eusebius gegeben. Das bedeutet: der Glückliche Fromme. Es verging kein Tag in seiner ganzen Schulzeit, an dem er nicht von seinen Lehrern geschlagen wurde. Es müssen für ihn schreckliche Leidensjahre gewesen sein! Hier bleibt allein die Hoffnung, dass ihm dies allein aufgrund seiner geistigen Minderbegabung vielleicht doch nicht voll zu Bewusstsein kam. Das wäre ihm zu wünschen.
Sein Vater war der Dorfschreiner und Sargmacher, wie sein Sohn ein freundlicher Mann, und strohdumm. Auch hier stand der Stamm nicht weit von der Stelle, wo der Apfel hinfiel. Wie der Sohn, so der Vater.

Bei ihm lernte er später das Schreinerhandwerk und übernahm das Geschäft nach dem Tod des Vaters. Seine Frau war wesentlich geschäftstüchtiger als er, und so spezialisierte er sich später voll auf das Bestattungswesen, nachdem er die Prüfung zum Schreinermeister bestanden hatte (ein besonderer Balsam für sein Selbstbewusstsein).
Und so hätte sein Leben schließlich doch noch in aller Ruhe und Bequemlichkeit dahinplätschern können, wenn - ja, wenn nicht das Schicksal hier mit einer Art versöhnendem Augenzwinkern eingegriffen hätte. Eines jeden Menschen Lebenszeit ist begrenzt, auch die der Kraftstrotzendsten und am lautesten Polternden. Junge Menschen werden alt und irgendwann sind sie klapprige Greise. Und dann müssen sie auch den Weg allen Fleisches gehen. Und genau hier hielt das Schicksal für unseren Felix-Eusebius, seines Zeichens Schreinermeister, Sargmacher und Bestatter, noch ein wunderbares Bonbon der ausgleichenden Gerechtigkeit bereit:

FÜR ALLE SEINE LEHRER, DIE IHN EINST GEDEMÜTIGT, GEPEINIGT UND GESCHLAGEN HATTEN, KAM DIE ZEIT, DASS SIE STARBEN, ALLE IM ORT. AUCH DER REKTOR.
UND ER BEGRUB SIE ALLE.
Es ist aber nichts darüber bekannt, ob ihm das Groteske dieser Situation überhaupt je aufging. Den anderen Leuten im Dorf aber war das schon klar. Denn bei jeder Beerdigung eines ehemaligen Lehrers huschte ein verstohlenes Grinsen über das Gesicht der Trauergäste. Es wurde aber niemals darüber gesprochen, dass er heimlich ein zweites Grabkreuz für den Rektor angefertigt hätte mit der Aufschrift:

HIER RUHT DER STEISSTROMMLER N. N. SEIN TREUSORGENDES HERZ UND SEINE NIMMERMÜDEN HÄNDE HABEN FÜR IMMER AUFGEHÖRT, ZU SCHLAGEN.
GEPRIESEN SEI GOTT, DER HERR!
+ RIPP +

Diesen letzten Triumph hätte man ihm von Herzen gegönnt.
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