EIN KIRCHENCHOR AUF ABWEGEN

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heuberger
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EIN KIRCHENCHOR AUF ABWEGEN

Beitrag von heuberger »

Diese Geschichte hat mir Uwe, ein lieber Freund, erzählt. Und dem wiederum hatte sie seine Tante Frieda erzählt. Tante Frieda war ein rühriges Mitglied der Kirchengemeinde. Außerdem war sie begeisterte Sängerin im Kirchenchor. Und so erzählte sie, dass über zwei Jahrzehnte lang ein und derselbe Dirigent sein strenges Regiment über den Chor führte. Ihm galt absolute Disziplin als Voraussetzung für ein gottgefälliges Musizieren.
Er betätigte sich auch noch als Arrangeur und Komponist. So hatte er im Lauf der Zeit ein beachtliches Repertoire aufgebaut, das den Kirchenchor instand setzte, zu allen Anlässen im menschlichen und kirchlichen Leben die passende musikalische Untermalung zur Verfügung zu haben.

Zu seinen Lieblingsstücken gehörte das Lied „So nimm denn meine Hände“ von Julie von Hausmann (1826 - 1901), also aus der Zeit des Biedermeier. Der Text war sehr einfach, passte zu jeder Gelegenheit. Ebenso schlicht und anspruchslos war die Melodie. Die bot jedoch viele interessante Möglichkeiten der harmonischen Aussetzung, von der allereinfachsten Begleitung bis hin zu einer gewissen Annäherung an Bachsche Choräle. Und genau dies hatte der unermüdliche Dirigent bewerkstelligt. Er hatte die schlichte Melodie selbst harmonisch ausgesetzt, darunter mit einigen durchaus gewagten Akkordverbindungen. Dies steigerte sich bis zu der Stelle, wo es im Text heißt: „Wo du wirst geh´n und stehen, da nimm mich mit.“ Da hatte er so schwierige Modulationen gesetzt, die weit weg führten von der ursprünglichen Tonart, um dann anschließend mit einem Kunstgriff wieder zurück zu führen.
Diese Stelle erwies sich für einfache Chorsänger als eine wirkliche Klippe, an der sie leicht Schiffbruch erlitten.
Hier stürzte der Kirchenchor immer ab. Das will heißen, er landete zum Schluss nicht mehr in der Ausgangstonart. Und das war deutlich zu hören. Es klang einfach schrecklich falsch. An dieser Stelle rastete der Dirigent jedesmal aus.
So verging Jahr um Jahr. Nichts hatte sich daran geändert. Der Chor sang brav, kam bei der gefährlichen Stelle ins Straucheln und Trudeln, stürzte schließlich johlend ab, und dann tobte der Dirigent.

Schließlich verstarb er dann irgendwann.

Als exakt planender Mensch hatte er auch die Abfolge seiner Beerdigung genau festgelegt.
Und daran hielt man sich. Der Sarg ruhte auf Bohlen über dem offenen Grabe, geschmückt mit einem wunderbaren, großen und schweren Bukett, das der Kirchenchor gestiftet hatte. Es war bereits etwas verrutscht als der Sarg feierlich auf das offene Grab gestellt wurde.
Vor dem Grab stellten sich die Angehörigen auf mit dem Pfarrer.
Dann waren da auch die zahllosen Trauergäste.
Hinter dem Grab stand der Kirchenchor, sozusagen Gewehr bei Fuß, um dann im richtigen Moment loszulegen.

Des verblichenen Chorleiters Lieblingslied erklang: „So nimm denn meine Hände …“
Und wieder näherte man sich der gefährlichen Stelle.
Der Gesang bekam etwas Hektisches.
Immer näher…
Und dann: „Wo du wirst geh´n und stehen …“
Und wieder geriet der Chor musikalisch auf Abwege und sang volltönend und falsch, aber mutig, zu Ende.
Die Trauergemeinde hatte nichts davon bemerkt.
Da plötzlich kam aber das große Bukett auf dem Sarg, das der Kirchenchor gestiftet hatte, ins Rutschen, fiel vom Sargdeckel herunter und schlug mit einem deutlich vernehmbaren Plumps unten auf dem Boden des Grabes auf. Der Tote musste jetzt also sozusagen, auf Blumen gebettet, vor seinen Herrn treten.

Es wäre weiterhin nichts Besonderes geschehen, hätte nicht ein Basssänger, Ewald W., die verhängnisvolle Äußerung getan:
„Au weia, er hat´s gehört und gemerkt, dass wir wieder falsch gesungen haben. Und jetzt ist er so richtig böse!“
Da überkam es den ganzen Chor wie ein Sturmwind. Sie schüttelten sich, blickten in Panik um sich und hielten Ausschau nach irgendeinem Mauseloch, in das sie sich hätten verkriechen können.
Die Rettung stand hinter ihnen, in Form einer übermannshohen Thujahecke.
Dahinter schritten sie, immer drei Leute, mehr passten nicht dahinter, und lachten sich dort gründlich aus, bis ihnen die Tränen kamen. Und wenn es ihnen dann besser erging, so kamen sie, wieder selbdritt, zurück, mit Tränen in den Augen, so dass die nächste Dreierformation denselben Weg antreten konnte. Zuerst der Bass, dann der Tenor, dann Alt und zum Schluss der Sopran.
Als der gesamte Kirchenchor nun zweimal zum Lachen hinter der Hecke verschwunden war, und tränenüberströmt wieder auftauchte, ging es den Sängern wieder so gut, dass sie in Ruhe das Ende des Begräbnisses abwarten konnten, um sich dann guten Mutes ins Lokal zur „Alten Kelter“ zu begeben, wo die Wirtsleute zum Leichenschmaus gedeckt hatten.

Nachdem hier Kaffee und Kuchen auch, um beim Bilde zu bleiben, den Weg allen Fleisches gegangen waren, kam der Pfarrer an den Tisch, an dem die wackeren Chorsänger saßen, und sprach zu ihnen: „Die Angehörigen des Verstorbenen haben mich gebeten, Ihnen ihren herzlichen Dank für Ihren großartigen Gesang und für die wundervolle Zeremonie bei der Bestattung des teuren Verblichenen auszusprechen. Besonders Ihr respektvolles Hinter-die-Hecke-Treten, um dort Ihrer Trauer im Verborgenen Ausdruck zu verleihen, hat die Angehörigen und mich zutiefst überzeugt und bewogen, eine solche Zeremonie zu allen Begräbnissen einzuführen. Denn dies ist ein angemessen würdevoller Umgang mit dem Tode.“
Es blieb ihm zeitlebens verborgen, wie Recht er damit hatte, auch wenn er´s ganz anders meinte.
Dem Chor aber verschlug´s die Sprache. Und so sagte niemand auch nur ein Wort des Zurechtrückens der Tatsachen. Alle sahen ihn aus feuchten Augen treuherzig an und nickten ergeben mit den Köpfen.

So weht der Geist Gottes, wo er will, und wie er will, manchmal auch hinter einer Thujahecke.
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