HEIMSUCHUNG

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heuberger
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HEIMSUCHUNG

Beitrag von heuberger »

Irgendwann zu Beginn der 1990er Jahre erzählte mir eine Kollegin die Geschichte von einer pensionierten Lehrerin, die länger als dreißig Jahre in ein und demselben Haus zur Miete wohnte, und dort auch zu sterben gedachte.
Und diese Bewohnerin fand eines Morgens einen Brief ihres Vermieters in ihrem Briefkasten, mit der kurzen Mitteilung, dass das Haus verkauft werden müsse, und dass dies leichter ginge, wenn es unbewohnt wäre. Darum solle sie dies Schreiben als Kündigung des Mietverhältnisses betrachten.

Damit mir sowas im Alter nicht auch zustieße, wollte ich mich umsehen, ob irgendwo ein Häuschen auf einem Dorf zum Verkauf stünde, um es dann zu erwerben.
Da ich selbst in einem Dorf aufgewachsen war und Städte aus meiner Kindheit nur in Trümmern liegend und verwahrlost kannte, kam es mir zeitlebends nie in den Sinn, jemals auf längere Sicht in einer Stadt zu leben.

Für einen solchen Hauskauf hatte ich inzwischen genügend Geld zusammengespart. Mit Freund Dirk, der sich um meinen Haushalt kümmerte, und hier sogar als Finanzberater fungierte, suchten wir in den Zeitungen der näheren Umgebung nach Makleranzeigen über Hausverkäufe zu bezahlbaren Preisen.
Bald wurden wir auch fündig. Es wurden Häuser in allen Größen und Preislagen angeboten.
Da wir wussten, dass vielfach Mängel aller Art durch blumige Redewendungen in den Beschreibungen übertüncht werden, lasen wir die Exposés der einzelnen Angebote auch in dieser Hinsicht sehr aufmerksam durch. Wir wussten, was es bedeutete, wenn da von einem Häuschen für den Handwerker, familien- und kinderfreundlich, geschwärmt wurde. Das hieß dann übersetzt ganz einfach, eine renovierungsbedürftige Bruchbude, in einer Gegend mit vielen problematischen Familien und ungezogenen Kindern.
Am vieldeutigsten war aber diese Formulierung: „verkehrsgünstig gelegene Wohnung“. Dies konnte im schlimmsten Fall bedeuten, vor der Haustür ein Bahnhof, rechts eine Autobahn, hinter dem Haus ein Flugplatz, links eine Straßenbahnhaltestelle und im Erdgeschoß ein Bordell.
Wir waren also gewappnet und gefeit, um auch den berauschendsten Verlockungen unseriöser Makler erfolgreich zu widerstehen.

Schließlich fanden wir das passende Angebot. Es handelte sich um einen kleinen, leerstehenden Bungalow am Rande von Emmingen ab Egg (heute Emmingen-Liptingen).
Wir riefen bei der Maklerin an, die das Haus angeboten hatte. Sie teilte uns mit, das Gebäude habe vier Räume, nebst Küche. Bad und WC seien etwas später angebaut worden. Die Besitzer waren vor einigen Jahren gestorben. Die Erben wollten und konnten mit dem kleinen Anwesen nichts anfangen, und so stand es also zum Verkauf. Wir machten einen unverbindlichen Besichtigungstermin aus für den Nachmittag des folgenden Tages.

Am nächsten Tag standen wir inmitten von Wiesen und Obstbäumen, vor einem kleinen, rechteckigen Grundstück mit dem Bungalow und einigen kleinen Schuppen und Schöpfen.
Die Maklerin erwartete uns bereits. Sie überreichte mir das Exposé, dem sie noch den Bauplan, samt Genehmigung, mit allen erforderlichen Einzelheiten beigefügt hatte.
Daraus ging hervor, Vorbesitzer und Erbauer waren Walter Endruschkat, Wachmann, und seine Ehefrau Evelyne, geborene Renz, gewesen.
Endruschkat schien mir ein Name aus dem Ostpreußischen zu sein, also ein Heimatvertriebener. Diese Menschen wurden schon damals in den Fünfzigerjahren im Westen misstrauisch beäugt. Man missgönnte ihnen die Leistungen, die ihnen aus dem Lastenausgleich zustanden und unterstellte ihnen alle möglichen Motive für ihr Verhalten. Dass ihre Angaben der Wahrheit entsprächen, das wollte nur selten jemand sehen.
Zum Namen schien nun auch noch der Beruf des Mannes zu den schönsten Vorurteilen geradezu einzuladen. Wachmann, vermutlich auf dem Bundeswehrflugplatz bei Neuhausen ob Eck. Hier also konnte er seine Träume von Herrschaft über andere Menschen in einer Uniform ausleben, leicht bewaffnet, mit schneidig-schnarrendem Befehlston seine Fragen stellen und Anweisungen geben. Man sah schon Preußens Gloria wieder erstehen, nur aufgrund dieses Namens und dieser Tätigkeit.

Ach, was sind Vorurteile doch für eine wunderbare, hilf- und segensreiche Sache! Sie blähen uns die Brust, und lassen Nüstern und Kamm im Bewusstsein der eigenen Bedeutung mächtig anschwellen. Moralische Überlegenheit lässt ein Gefühl der Unangreifbarkeit aufkommen. Jeder Mensch, und sei er auch noch so kleinkariert, kann sich hier zum mächtigen Führer der Menschheit gerieren. Diese lässt sich ja immer wieder so gerne anführen.

Als wir das Haus besichtigten, beschlich mich ein etwas unbehagliches Gefühl. Die Bäume und Büsche um das Gebäude waren stark gewachsen, so dass im Inneren nur ein gedämpftes Licht herrschte. Hier war dringend ein Baumschnitt angesagt. In allen Zimmern standen noch einige verstaubte Möbel herum.

Nach dem Wohnzimmer kam man in eine Art Kinderzimmer. Hier hatte einst ein Kinderbett gestanden, es war auseinandergebaut, die einzelnen Teile standen an die Wand gelehnt. An der Decke hing eine alte Spieluhr, wie man sie in den Sechziger Jahren gerne über Kinderbettchen aufhängte. Diese hier spielt sogar noch, wenn man sie mit dem Schlüssel, der noch steckte, aufzog. Es erklang das Wiegenlied von Brahms, („Guten Abend, gut Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck´.“ und so weiter und so fort.) Ich hatte mich früher schon immer gewundert, wieso der junge Brahms einen derart albernen Text mit einer so wunderbaren Musik versehen konnte. Dass hier ein Kinderbett beschrieben wurde, mit einem geblümten Stoffhimmel mit Rosenmuster, der das Baby wie ein Dach vor den Schnaken beschützen sollte ( Mit Rosen bedacht), die Decke mit Nelken (Näglein) bestickt, unter deren Schutz das Kind für die Nacht schlüpfen sollte, das wurde mir erst viel später klar. Somit bekam die ganze Sache plötzlich Hand und Fuß, und Johannes Brahms war für mich kein einfältiger romantischer Trottel mehr, sondern er entpuppte sich als sehr einfühlsamer Mensch.

Dann waren an einer Wand Kinderzeichnungen mit Reißzwecken befestigt. Sie stellten in ihrer etwas unbeholfenen Art Tiere dar und auch Menschen. Selbst ein richtiger Kopffüßler war darunter, (ein Wesen mit Kopf und Füßen, meistens die früheste Darstellung eines Menschen durch Kinder).
Auf allen stand „Bettina“, manchmal auch „Bettina E“, auf einem Bild sogar „Pettina“. Das Kind hatte vergessen, den unteren Bogen beim B zu malen.
Es waren keine Fotos von dem Mädchen zu sehen. Dafür saßen und lagen in einem Wandregal eine Menge Kuscheltiere, darunter ein kleiner Teddybär und mehrere Puppen. Alle machten einen sehr gebrauchten Eindruck, zum Teil abgewetzt vom vielen Liebhaben.

„Aha,“ dachte ich, „eine Tochter haben sie also auch, die Wachmanns. Da kann der stolze Vater ja gleich am Kinderbett mit dem militärischen Drill beginnen.
In jedem Zimmer war etwas, das an das kleine Mädchen erinnerte. Fast tat sie uns leid, die kleine Bettina. Wenn wir uns vorstellten, was für eine freudlose Kindheit und Jugend sie unterm Kommando solch eines bestimmenden Vaters verbringen musste. Hoffentlich war ihre Mutter wenigstens in der Lage, sich dem strengen Erziehungsstil ihres Mannes zu entziehen und somit auch ihre Tochter zu beschützen. Wir sahen das kleine Mädchen bereits, wie es unter dem polternden Vater schier zusammenbrach.
Was mochte wohl inzwischen aus ihr geworden sein?

Das Haus hatte eine Terrasse, die vom Wohnzimmer aus betreten werden konnte. Und am Rande dieser Terrasse war eine Art rechteckiges Gartenbeet, völlig zugewuchert. Als wir die Pflanzen darauf etwas zur Seite bogen, erkannten wir, dass sie nicht in Gartenerde standen, sondern in reinem Sand. Wir waren auf einen Sandkasten für Kinder getoßen. Selbst kleine Kuchenförmchen aus Plastik lagen da noch herum.
„Die übertreiben´s wirklich,“, sagte ich zu mir selber, nach so langer Zeit, nachdem die Tochter als junge Frau das Haus verlassen hat, hätte man das alles ja wohl ein bisschen anders gestalten können.“

In die anderen Gebäude im Garten, es handelte sich um kleine Schuppen, vermutlich für die Lagerung von Holz und Kohlen, bzw. für die Aufbewahrung von Gartengeräten, warfen wir nur einen kurzen Blick, bedankten uns bei der Maklerin und versprachen, die ganze Angelegenheit zuhause nochmals gründlich zu überdenken, und ihr dann Bescheid zu geben. Dann fuhren wir wieder nach Hause zurück. Ich hatte keinen besonders guten Eindruck von dem kleinen Anwesen. Es wirkte auf mich wie tot und hatte wenig Einladendes.

Aber am nächsten Tag sagte ich zu Dirk: „Komm, wir fahren nochmals hin und schauen uns den Garten nochmals an, vielleicht haben wir gestern etwas Wichtiges übersehen. Wir können das Grundstück ohne weiteres betreten, die Gartentür ist ja nicht abgeschlossen.“
Also fuhren wir gleich nach dem Mittagessen nochmals los. Als wir ankamen, machte der Garten mitsamt den Gebäuden einen noch trostloseren und verwahrlosteren Eindruck als tags zuvor. Schon wollte ich wieder gehen, da bemerkte Dirk: „Du, schau mal, der eine Holzschuppen ist gar nicht abgeschlossen, den kann man ganz einfach so betreten.“ Aber ich wollte nicht mehr. „Geh du allein hinein, und schau nach, ich bleibe hier draußen. Du kannst mir ja hinterher berichten, was du gesehen hast.“
Also ging Dirk in den Schuppen hinein, während ich es mir draußen in der Sonne etwas gemütlich machen wollte. Nach kaum zwei Minuten ertönte aus dem Schuppen ein Pfiff und kurze Zeit danach tauchte Dirks Gesicht in der Tür auf. „Du, ich hab was gefunden, komm mal her.“ Also leistete ich der Aufforderung Folge um selber zu sehen, was da wohl Interessantes aufgetaucht wäre.

Drinnen sah ich es dann: Eine dicke Steinplatte, annähernd quadratisch, lehnte an der Wand. Mit vereinten Kräften drehten wir sie um. Es war ein alter Grabstein.

Ein großes Kreuz war darauf gemeißelt, umrankt von einer blühenden Heckenrose. Und dabei dieser Text:

Hier ruht unser liebes Töchterlein
BETTINA ENDRUSCHKAT
*19.November 1959
+ 05. Juli 1965
DU WARST DER SONNENSCHEIN IN UNSEREM LEBEN.











In Luthers Sendbrief vom Dolmetschen, einem der wichtigsten Dokumente über die deutsche Sprache, heißt es: „Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über.“ Da möchte man doch ergänzen: „Nicht nur der Mund, manchmal auch die Augen, insbesondere dann, wenn man, unerwartet, sehr betroffen ist, und auch das eigene Versagen erkennen muss. Dann wird einem das Herz schwer.“

Ich habe das Haus dann nicht gekauft.
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