Mechthilds Brief

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Stiekel
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Mechthilds Brief

Beitrag von Stiekel »

Mechthild ist frustriert. Irgendwie scheint ihr Leben aus den Fugen geraten zu sein. Ihr Selbstwertgefühl ist auf dem Nullpunkt. So schreibt sie ihrem Jens einen Brief, den sie aber nicht abzuschicken gedenkt.

Schatz, du weißt, ich habe Probleme und tust manchmal, als würdest du sie ernst nehmen. Doch dann wieder habe ich das Gefühl, du machst mir nur etwas vor. Ich habe mich in einen anderen Mann verliebt, sicherlich aus dem Grund, weil ich mich so einsam fühle. Du hast dich in den Jahren an mich gewöhnt und findest es nicht schlimm, ab und zu mal mit mir ins Bett zu steigen. Wann hat es dich erregt und dir heiße Schauer der Leidenschaft über den Rücken jagen lassen, wenn du mich küsstest? Ist da überhaupt noch ein Prickeln, wenn du an mich denkst? Wenn ich mit dir Schmusen möchte, meinst du nur gelangweilt, ich soll man nicht übertreiben. Kann man verlernen, wie man in einem Mann das Feuer der Leidenschaft weckt? Ich befürchte, ich habe es nie verstanden.

Auch mit lauter Wehwehchen habe ich starke sexuelle Gefühle, die keiner bei mir vermutet. Bin ich etwa ein Stück Holz? Ich möchte von dir geliebt, begehrt, umschwärmt und in den Arm genommen werden. Mag nicht nur alle paar Wochen mal ein paar Pflichtübungen über mich ergehen lassen. Ich darf nicht ungerecht werden. Du nimmst mich ja in den Arm und küsst mich auch. Doch das geschieht viel zu selten.

Irgendwie habe ich das Gefühl, du denkst, dass ein anderer Mann dir nicht gefährlich werden kann. Schließlich bin ich schon seit 29 Jahren deine Frau und außerdem Oma. Nehme ich Abends mein Gebiss aus dem Mund, schaut mir eine Neunzigjährige aus dem Spiegel entgegen. Dazu bin ich eine fette, behäbige Alte mit Hängebauch seit meiner Unterleibs-OP. Welcher Mann verzehrt sich schon nach solch einem Weib? Ich glaube sogar, dass du damit recht hast. Es schmerzt, nicht mehr begehrenswert zu sein.


Du stehst immer unter dem Druck deiner Firma und musst viel zu lange arbeiten. Ich sitze hier ganz alleine zu Hause herum und fühle mich überflüssig. Ich verliere die Motivation etwas zu tun, weil ich keinen Sinn mehr darin sehe. Nach dem Besuch unserer Kinder, fühle ich mich doppelt einsam. Es gibt keinen, mit dem ich reden kann. Das Haus ist leer. Ich werde Menschenscheu. Traue mich nicht, andere zu besuchen, aus Angst, sie zu belästigen. Überwinde ich mich dann, irgendwo hin zu gehen, erzähle ich meine persönlichen Probleme Leuten, mit denen ich besser nicht darüber reden sollte. Ich sabble dann pausenlos und schäme mich später. Wenn das noch lange so weiter geht, bin ich reif für die Klappsmühle.

Es ist jetzt Nachts halb vier. Ich bin todmüde und habe Angst ins Bett zu gehen. Dort fallen meine Sehnsüchte über mich her und lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Du hast recht, der Mann, in den ich mich verliebt habe, wird dir nicht gefährlich. Ich glaube, für den bin ich geschlechtslos und alt. Außerdem ist er ahnungslos! Der Computer ist der einzige, der alles ohne Murren in sich aufnimmt. Er wird noch wohl viel von mir zu hören bekommen. Mein lieber Jens, einerseits möchte ich, das du dies hier liest und andererseits auch wieder nicht. Ich habe Angst, du könntest mich dann gar nicht mehr lieb haben und respektieren. Ich liebe dich doch auch noch immer ganz doll, trotz meiner Gefühle für Niklas. Sage mir doch, was ich tun soll? Ich bin so verzweifelt.

Deine Mechthild

© Sabine Brauer
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Nur wer sich selber liebt ist fähig,
auch andere zu lieben.
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