WAS IST REALITÄT ?

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heuberger
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WAS IST REALITÄT ?

Beitrag von heuberger »

Die letzte Ölung

Ich weiß, dass ich auf die Nerven gehe mit den albernen Geschichten aus dem ewiggleichen Milieu. Aber wovon soll ein pensionierter alter Lehrer denn sonst plaudern, wenn nicht aus der Schule, dem einzigen Ort, an dem er sich gut auszukennen glaubt? Wir alle wissen auch, dass die Schule ein Ort der Belehrung ist, vor allem der unangenehmen Belehrungen. Sie mögen ja zwar wohlbegründet sein, werden aber dennoch nur mit Widerwillen gehört oder gar beherzigt, denn „alles, was Spaß macht, ist entweder gefährlich, oder verboten, oder unanständig, oder es macht dick. Wer kann einem solchen Argument ernsthaft widerstehen? Und genau aus dieser Haltung heraus kam es zu einem kleinen, aber folgenreichen Zwischenfall an der Grundschule in Bubsheim auf dem Heuberg, in den späten Sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelte sich um eine weniggegliederte Landschule. Die Klassen 1 bis 4 wurden von einem einzigen Lehrer betreut. Der unterrichtete alle Fächer, außer Religion und Handarbeit. Dies besorgten der Ortspfarrer und eine Handarbeitslehrerin, entweder die ortsansässige Kinder- und Krankenschwester, eine Nonne, oder eine „reisende“ Lehrerin, die für den halben Schulamtsbezirk zuständig war. Solcherlei Schulen wurden später geringschätzig „Zwergschulen“ genannt, zum Teil zu Unrecht, denn hier lernten die Kinder früher zwei wichtige Dinge: Sie kümmerten sich selbst um ihre Aufgaben, das heißt, sie stellten sich ihre Aufgaben selbst. Dies führte in der Konsequenz denn auch zu größerer Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Und sie kümmerten sich um jüngere und schwächere Schüler. Dies förderte sehr ihr Sozialverhalten.
Doch jetzt zurück zu unserer Geschichte. Der Lehrer an der Grundschule in Bubsheim hatte aus gutem Grunde verboten, im Winter auf dem Pausenhof mit Schneebällen aufeinander zu werfen.
Die große Pause war gerade zu Ende. Die Kinder stellten sich in Zweierreihen auf, um dann „gesittet“ in die Klassenzimmer zu gehen. In der folgenden Stunde waren sie getrennt, denn in den Klassen 3 und 4 erteilte der Pfarrer laut Stundenplan Religionsunterricht. Er war bereits eingetroffen und sah zu, wie die Kinder sich aufstellten.
Da flog plötzlich ein Schneeball durch die Luft. Dies sollte zu einer unerwarteten Verkettung merkwürdiger Umstände führen, also gleichsam, um beim passenden Bilde zu bleiben, eine Lawine auslösen. Der Schneeball hatte, wie üblich bei solchen Anlässen, im falschen Moment sein Ziel gefunden. Er traf einen Erstklässler an der Stirn. Das wäre nun eigentlich nicht weiter erwähnenswert gewesen, denn der Wurf war harmlos, nicht einmal die Brille des Jungen ging dabei kaputt. Aber es musste sich im zusammengepressten Schnee wohl ein kleiner Glassplitter befunden haben, was zu einer geringfügigen Verletzung der Haut an der Stirn geführt hatte. Und, wie wir alle wissen, ist das Gesicht ein besonders empfindlicher Körperteil. Schon die geringste Verletzung führt zu auffälligen Blutungen, bei deren Anblick allein wir schon das Schlimmste fürchten, - nicht wahr, meine Herren? Schon beim Nassrasieren ein kleiner Kratzer mit der Rasierklinge, und man blutet wie die Sau“. So war es auch hier. Jetzt galt es zu handeln. Aber wegen eines so geringfügigen Zwischenfalles konnte man nicht gut den ganzen geplanten Unterricht über Gebühr ändern oder gar ausfallen lassen. Also führte man den Jungen ins Lehrerzimmer am Ende des langen Flurs, legte ihn dort auf eine Turnmatte auf dem Boden, damit er so bequemer läge. Der Lehrer sagte, er wolle die Mutter des Jungen anrufen, damit sie ihn nach Hause brächte. Dann bat er den Pfarrer, bei dem Verletzten zu bleiben bis die Mutter käme. Er selber wolle sich inzwischen um beide Klassen kümmern. Gesagt - getan!
So begaben sich alle an ihre Plätze, und die ganze Angelegenheit wäre zu Ende gewesen.
Aber nicht heute. Es war eben ein besonderer Tag. Gerade war wieder die gewöhnliche, summende und brummende Ruhe eines Schulhauses zurückgekehrt, da zerriss ein grauenhafter, markerschütternder Schrei die ganze trügerische Ruhe. Eine weibliche Stimme schrie im höchsten Diskant, wie in Todesnot: „MEIN BUA! O MEIN BUA!“ (Mein Junge, o mein Junge!) Voller Schrecken und Neugierde rannten die Schüler samt dem Lehrer zur Tür des Klassenzimmers, um nach der Ursache all diesen Jammergeschreis zu sehen. Es war die Mutter des verletzten Jungen, die schreckensbleich und mit weit aufgerissenen Augen immer noch schreiend auf die offene Tür des Lehrerzimmers am Ende des Flurs blickte.
Was sie dort sah, erfüllte sie mit Panik:
Ihr Junge lag auf dem Boden, der Pfarrer kniete neben ihm und wischte ihm mit einem Wattebausch das Blut seiner kleinen Verletzung von der Stirn.
Was dachte sie? Ihr Junge war wohl so schwer verletzt, dass er im Sterben lag. Der Pfarrer kniete neben ihm und gab ihm die Sterbesakramente, oder, wie man früher sagte, die Letzte Ölung. (Da ich selber nicht katholisch bin, weiß ich hier nicht so recht Bescheid, wie man dies nennt; ich bitte daher alle Katholiken um freundliche Nachsicht.)
Der verletzte Junge war so sehr erschrocken über das Verhalten seiner Mutter, dass er mit einem Ruck aus seiner liegenden Stellung hochfuhr, und somit dem Pfarrer, welcher gerade über ihn gebeugt war, einen derart kräftigen Kinnhaken verpasste, dass das hochwürdigste Gebiss ein paar Tage lang bedenklich knirschte, wackelte und schmerzte. Dabei hatte der Junge einen Gesichtsausdruck, als ob er sich fragte: Ja, was lärmt die Mutter denn so herinnen?
So allmählich wich die angestaute Spannung einem befreiten Gelächter, als alle begriffen hatten, was wirklich geschehen war.
Der Lehrer freute sich, dass die ganze Angelegenheit solch ein harmloses Ende gefunden hatte.
Der Pfarrer bat den lieben Gott, ihn in weiteren Situationen, die dieser ähnlich waren, auch weiterhin so gnädig zu führen, so wäre sein Dienst wesentlich einfacher und leichter.
Der Junge freute sich, einmal so im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Andererseits war ihm das dann aber doch etwas peinlich.
Die Kinder freuten sich enorm, dass die eintönige Langeweile des gewöhnlichen Unterrichts so abrupt unterbrochen worden war durch diese einmalige „action“. So ließ sich das zumeist freudlose Schülerdasein wenigstens halbwegs ertragen und überstehen.
Allein die Mutter erholte sich nicht so schnell von all dem ausgestandenen Schrecken und von der Panik dieser fürchterlichen Situation. Später aber konnte sie dann doch herzlich und erleichtert über das Geschehene lachen.
Und wir alle sollten vielleicht darüber staunen, dass selbst so etwas, wie ein unbedeutender, klitzekleiner Schneeball beinahe den Lauf der Welt ändern kann.
Nicht immer zeigen unsere Sinne uns die Wirklichkeit.
Nicht immer muss man aber gleich nach dem Notarzt oder nach dem Bestatter rufen. Manchmal tut es auch ein einfaches Pflaster.
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