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Bitterkeit und Süsse - Die Farben des Tages

Verfasst: Sonntag 4. August 2019, 13:24
von RosaRhoot
Die Farben des Tages - Brief

Liebe Freundin, Du fragst mich in Deinem Brief, wie es mir geht. Ich beschreibe es mit den Farben des Tages.
Ein neuer Morgen drängt sich schleichend in mein Leben. Ich suche die rosaroten Brillengläser und stehe viel zu lange vor dem Spiegel. Er zeigt mir gnadenlos sein Spiegelbild. Graue Haare bedecken mein Haupt, braune Flecken meine Stirn. An den Augenwinkeln bilden sich tiefe Linien, oberhalb der Lippe sind es Katzenfalten, die Haut am Dekolleté hat Knitterfalten, der weiße Körper nicht mehr straff, zeigt mir sein Alter.
Im uralten Baum vor meinem Fenster sammeln sich die schwarzgrauen Nebelkrähen mit weithin hörbaren Krah-Rufen. Mir fehlt der freudige Blick auf die apricotfarbenen Rosenknospen wie auch nach oben zur Morgensonne.
Auf dem Küchentisch stapeln sich bunte Werbeblätter, daneben ein Briefumschlag mit schwarzem Rand, mein Name darauf in blauer Tinte geschrieben.
Das Frühstück fällt diesmal schmal aus, der Toast ist zu Braun, die rote Marmelade gärt und meine Kaffeesahne geht zur Neige. Der Morgenkaffee bekommt einen bitteren Beigeschmack.
Ich tausche die grauen Hausschuhe mit den farbigen Pumps, entscheide mich für Dessous mit champagnerfarbener Spitze, lege die Halskette in Bicolor um, wähle das hellgelbe Kleid, schminke die Lippen purpurrot, hänge die weiße Kaschmirjacke über meine Schultern, entscheide mich für die sandfarbene Schultertasche, stecke den Schlüsselbund ein und ziehe die Haustür hinter mir zu. Meine Augen gewöhnen sich nur langsam an die bunten Farben des Tages.
Der schwarzhaarige Nachbar kommt mir entgegen, geht wie gewohnt mit seinem braun gescheckten Hund die Morgenrunde. Am Straßenrand stehen Mülltonnen mit blauen, grauen und braunen Deckeln, davor liegt ein achtlos hingeworfener Pappbecher.
Ich wende mich ab, entdecke hier und da in den Rillen der grauen Pflastersteine die gelben Blüten vom krautigen Löwenzahn. Meine Augen folgen den huschenden Blaumeisen und Rotkehlchen, verweilen in den Vorgärten der Nachbarn, schauen auf violette Fliederblüten sowie rosarot blühenden Weißdorn.
In diesem Moment höre ich über mir den Flügelschlag der weißen Brieftauben, sehe, wie sie in Schlagnähe ihre Kreise fliegen, kann den Blick nicht lösen, weil in weiter Ferne ein bunter Heißluftballon am Himmel entlanggleitet.
Ein leichter Wind streichelt sanft mein Gesicht, fordert mich auf, einmal mehr hochzuschauen. Er zeigt mir sein Spiel mit den zartweißen Federwolken, treibt sie ruhelos vor sich her, verleiht ihnen bizarre Formen bis sie sich langsam auflösen zugleich in der azurblauen Weite dahinschwinden.

Ich schicke Dir farbenfrohe Grüße
http://www.rosa-rhoot.de