DAS AMULETT

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heuberger
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DAS AMULETT

Beitrag von heuberger »

DAS AMULETT

Immer wieder erfreut es unser Gemüt und wärmt die Brust, wenn wir erfahren, wie Eigenschaften der wahren Herzensgüte sich paaren mit dem Ausdruck höchster ästhetischer Vollendung. Wer vermöchte es da, der Verlockung, uns damit zu schmücken, zu widerstehen?

Sie hieß Marie-Clarissa, kam aus einer vornehmen, alten, verarmten Familie aus brandenburgischem Adel und war verheiratet mit einem nicht unbedeutenden Berliner Regionalpolitiker, der einer Partei der gerade regierenden Koalition angehörte.
In dieser ihrer Eigenschaft als Politikersgattin war sie natürlich immer wieder genötigt, bei geeigneten Anlässen öffentlich an der Seite ihres Mannes aufzutreten, oder zumindest doch gelegentlich aufzutauchen.
Privat tendierte sie eher zur lokalen Kunstszene, pflegte eifrig den Umgang mit Künstlern, sowohl arrivierten, als auch unbekannten und sorgte für deren Förderung. Sie war also wohl mehr wohltätig tätig.
Darüberhinaus war sie aber auch eine attraktive, gepflegte Frau, die ihr Erscheinungsbild sehr wohl durch die passenden Maßnahmen und Accessoires aufzuhübschen wusste, ohne im geringsten aufgedonnert zu erscheinen. Das Design bringt´s eben!

Vor Jahren, noch in einer Zeit mit wesentlich weniger Stress, hatte sie in einem Urlaub in Südfrankreich, auf einem lokalen Flohmarkt eine etwas größere chinesische Münze erstanden, die ihr sofort gefallen hatte.
Sie hatte sich beim Verkäufer erkundigt, ob dies ein Geldstück war, oder ein Schmuckstück. Geheimnisvoll hatte der ihr daraufhin erzählt:
Madame, es war ein Schmuckstück, das sich in alter Zeit eine Prinzessin, die ihr allergrößtes Glück in der Liebe gefunden hatte, einst von einem Meister nach eigenen Entwürfen anfertigen ließ. Und dieses Medaillon trug sie zeitlebens, und Jeder, der es sah, grüßte sie freundlich und war ihr wohlgesonnen.
Nach ihrem Tode verschwand dies Medaillon und galt für lange Zeit als verschollen, bis es bei diesem Händler wieder auftauchte. Der erkannte es nur an den aufgeprägten geheimnisvollen Schriftzeichen, die niemand zu deuten wusste oder wagte.
Rasch wurde man sich handelseinig. Die Münze wechselte, samt Aufbewahrungsschächtelchen, den Besitzer. Der Kaufpreis schien angemessen. Und so rieben sich beide Handelspartner nach dem Abschluss zufrieden die Hände, in dem Bewusstsein, ein sehr gutes Geschäft gemacht zu haben.
Marie-Clarissa merkte, wie sich allmählich ihre gesamte Persönlichkeit unter dem Einfluss der erworbenen Münze zu verändern begann. Ihr Denken und Fühlen drehte sich nur noch um diesen ihren neuen Schatz.

Wieder zuhause im heimatlichen Berlin angekommen, nahm sie sofort Kontakt auf mit einem ihrer Künstlerschützlinge, einem Goldschmied, und beauftragte ihn, die neu erworbene Münze zu einem wahrhaft wertvollen, tragbaren, Schmuckstück umzuarbeiten. Die geheimnisvollen Schriftzeichen sollten durch eine galvanisch aufgebrachte Goldauflage deutlich wahrnehmbar werden. Außerdem sollte sie in einem Rahmen aus Edelmetall befestigt werden, und dann das Ganze, mit einer Kette verschweißt, um den Hals getragen werden können.
Der so Beauftragte machte sich denn auch sogleich mit großem Eifer an die Arbeit, und konnte seiner Auftraggeberin binnen dreier Tage mehrere Entwürfe vorlegen. Wohlwollend prüfte sie diese, schlug noch ein paar kleine Änderungen vor, und erteilte dann den endgültigen Auftrag.

ES WURDE EIN MEISTERWERK.

Auf der dunkelgrün grünspanigen runden Münzscheibe prangten die geheimnisvollen Schriftzeichen in mystisch-magischem, goldenem Schimmer. Auch die gezackten Ränder waren schmal mit Gold bezogen.
Eingepasst war das Ganze in einen quadratischen Rahmen aus Rotgold, fein ziseliert und von einem dünnen, hellbraunen Lederband umschlungen. Und dann das Ganze noch an eine prächtige Kette aus Gold gelötet, fest verbunden, so, dass es gefahrlos um den Hals gehängt werden konnte.
Und so mauserte sich schließlich eine ganz gewöhnliche, ordinäre chinesische Münze und verwandelte sich zunächst in ein prächtiges Medaillon, das als Schmuckstück einen Hals zierte, um schließlich durch Veredlung zum geheimnisvollen Amulett zu mutieren, das seinem Träger nie endenwollende Liebesfreuden versprach und das Wohlwollen und die Zuneigung aller Menschen, denen er begegnete, so, wie es die magischen goldenen Schriftzeichen verhießen.
Und so wurde dieses Amulett täglich zur Schau gestellt, einer Ikone gleich, am Halse seiner stolzen Besitzerin baumelnd, die es wie zur Bestätigung ihres eigentlich unfassbaren Glückes , immer wieder mit der Hand berührte. Und der Zauber wirkte weiter und steigerte sich noch.

Schließlich erhielt Marie-Clarissas Gemahl eine offizielle Einladung zu einem Empfang in der Botschaft der Volksrepublik China.
Die folgenden Tage waren angefüllt mit der ausführlichen Beratung über die diesem Ereignis angemessenen Garderobe. Für die Herren bestimmte der Dresscode eindeutig: Frackzwang. Für die Damen gab es diesbezüglich keine Vorschriften.

So entschied sich Marie-Clarissa für ein festliches rotes Kleid, das vorzüglich zu ihrem Amulett passen dürfte. Vielleicht bekäme sie Gelegenheit, bei dem Empfang mehr über Herkunft und Verwendungszweck ihres Juwels zu erfahren. Die Veranstalter hatten ihr zugesagt, ein bekannter wissenschaftlicher Schriftfgelehrter, mit Spezialgebiet alte chinesische Schriftzeichen, sei auch anwesend, und so gäbe sich vielleicht die Gelegenheit zu einem Gespräch.
Nach einigen Tagen verwarf sie aber wieder diesen Bekleidungsplan. Das Rot des Stoffes schien ihr doch zu aufdringlich blumig. Schließlich war die Volksrepublik China ein Arbeiter- und Bauernstaat. Da zählten weitaus solidere Werte als flatterhaft gestreute Blumen. Also verbannte sie nach gründlichem Überlegen das rote Kleid wieder in den Schrank zurück und wählte stattdessen ein grünes. Was ihrer Ansicht nach mehr für einen bäuerlichen, erdverhafteten Eindruck sorgte, als das leichtsinnige Rot. Außerdem kam vor diesem Hintergrund auch ihr Amulett weitaus besser zur Geltung.
Als dann der große Tag endlich anbrach, hatte sie sich nochmals neu besonnen und endgültig entschlossen, zu ihrem chinesischen Amulett passend, eine grande Robe aus schwarzer chinesischer Seide zu tragen. Sie träumte, im Grunde genommen im stillen davon, ihre Ikone in der passenden Umgebung der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Das Auto hielt vor der Botschaft. Der Chauffeur hielt die Tür auf, und sie stiegen aus. Kaum hatten sie Mantel und Jacke an der Garderobe abgegeben und die Empfangshalle betreten, stand Marie-Clarissa auch folgerichtig im Mittelpunkt des Interesses. Zuerst wurden ihnen die Botschaftsangestellten vorgestellt, anschließend machten sich die Gäste untereinander bekannt. Es fiel ihr auf, dass die Botschaftsangehörigen und die chinesischen Gäste einen kurzen Blick auf ihr Amulett warfen, sie dann ebenso kurz freundlich anlächelten, um sich dann anschließend den anderen Gästen zuzuwenden. Außerdem machte sich noch ein anderer Aspekt der chinesischen Kultur bemerkbar. Die Erwachsenen schickten die Kinder, die sich deutlich für das Amulett interessierten, aus dem Saal, verbunden mit der Aufforderung, die Dame nicht mit ihrer Neugierde zu sehr in Anspruch zu nehmen.
Marie-Clarissa schwamm in Seligkeiten darüber, dass ihrem Kleinod derartig viel Aufmerksamkeit gezollt wurde. Sie hatte es ja immer so geahnt.
Und dann wurde ihr ein Herr Lung Fung aus China vorgestellt.

Professor Lung Fung von der Universität Nanking, gilt weltweit als der führende Experte für Entwicklung und Bedeutung alter chinesischer Schriftzeichen.
Ihm zeigte sie ihr Amulett und bat ihn um seine Einschätzung über Bedeutung und Herkunft der Kostbarkeit.
“Wollen Sie das wirklich wissen?“ fragte er sie.
Sie bestand darauf.
Da schaute er ihr tief in die Augen und las vor:

„STAATLICH KONZESSIONIERTE PROSTITUIERTE, STADT SCHANGHAI“

Ihre zahlreichen Freunde wunderten sich in der folgenden Zeit ein wenig darüber, dass sie seit jenem Empfang ihre Auftritte in der Öffentlichkeit erheblich eingeschränkt hatte.
Zuletzt geändert von heuberger am Sonntag 12. April 2020, 20:43, insgesamt 2-mal geändert.
gerhard
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DAS AMULETT

Beitrag von gerhard »

Sehr schön geschrieben,und die Pointe ist köstlich.

China hat mich immer schon fasziniert,auch wenn ich wahrscheinlich nie hinkommen werde.

Jedenfalls ist es voll verständlich,dass sich die Dame mit diesem "Amulett" nicht mehr in der
Öffentlichkeit sehen lassen will!

L.g.Gerhard
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Re: DAS AMULETT

Beitrag von heuberger »

Vielen Dank, lieber Gerhard
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