Im D-Zug nach Brüssel

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Rehmann
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Im D-Zug nach Brüssel

Beitrag von Rehmann »

Mit einem Koffer und einer Reisetasche steige ich in den D-Zug nach Brüssel. In einem leeren Abteil verstaue ich mein Gepäck, setze mich gemütlich mit ausgestreckten Beinen ans Fenster und versuche zu schlafen. Leider bleibt es nur ein Versuch, schon an der nächsten Station ist mein Abteil bis auf den letzten Platz besetzt. Neben mir sitzen offensichtlich zwei Fussballfans, sie schimpfen und debattieren unentwegt über ein verlorenes Spiel ihrer Heimmannschaft und über einen Schiedsrichter, der volle neunzig Minuten Fehlentscheidungen traf. Mir gegenüber haben drei grundverschiedene Herren Platz genommen. Einer, er ist schon ein älteres Semester, liest in aller Ruhe eine Tageszeitung. Daneben ein etwa 35-jähriger, der übernervös in seiner Aktentasche kramt. Und zu guter Letzt ein Zweizentnermann, der seinen Kopf nach hinten legt und nach zehn Sekunden schnarcht.
Bei diesem Anblick werde auch ich wieder müde und versuche zu schlafen. Aber wieder bleibt es nur ein Versuch. Die Abteiltür wird mit einem Ruck aufgerissen; ein Schaffner tritt herein: „Die Fahrscheine bitte!"
Jeder einzelne kommt dieser Aufforderung des Beamten sofort nach, nur einer hat seinen Fahrschein nicht gleich zur Hand: der Übernervöse. Er sucht in den Hosentaschen, in den Manteltaschen, in der Brieftasche - nichts, er findet ihn nicht. Der Schaffner wird, trotz lächelnder Miene, ungeduldig, sein Blick verfolgt die zitternden Hände des Suchenden.
„Immer mit der Ruhe, Herr Kontrolleur, ich werde das Ding schon finden, ein Fahrschein ist ja schließlich keine Stecknadel", sagt der Nervöse und sucht weiter: Aktentasche, Gesäßtasche, Portemonnaie - da ist er -, aber der Schaffner bekommt ihn nicht. Der nervöse Herr steckt den Fahrschein halb in den Mund, kaut bedächtig darauf herum und sucht angestrengt weiter. Dem Schaffner steigt zusehends das Blut in den Kopf, als er dann mit schroffem Ton sagt. „Sie, wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich habe keine Zeit für derartige Späße; nehmen Sie gefälligst den Fahrschein aus dem Mund und geben Sie ihn her!"
Der Nervöse gehorcht, noch ein paar Kaubewegungen, dann überreicht er den Fahrschein und stammelt: „Hier bitte, Herr Kontrolleur."
Mit spitzen Fingern nimmt der Uniformierte den nassen, halb durchgekauten, kleinen weißen Zettel. Ohne richtig hinzuschauen zeichnet er ihn mit einem Bleistift auf der Rückseite ab und reicht ihn zurück, dann verlässt er kopfschüttelnd das Abteil.
Zwei Minuten völlige Stille; nur das dumpfe Rollen der Räder ist zu hören. Dann ergreift der ältere Herr mit der Zeitung plötzlich das Wort: „Gestatten Sie, mein Herr, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Julius Grübelein, Psychiater, darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten." Erstaunt blickt der nervöse Herr auf und entgegnet: „Es ist sehr nett von Ihnen, Herr Doktor, aber ich benötige keine Hilfe. Wie kommen Sie eigentlich darauf?"
„Sehr einfach, mein Herr, ohne Ihnen zu nahe zu treten, Sie sind erstens sehr nervös und zweitens - irgendwie krank; Sie haben vorhin Ihre Fahrkarte in den Mund gesteckt, trotzdem aber weiterhin danach gesucht, ich muss also daraus folgern, dass irgend etwas mit Ihnen nicht stimmt."
„Oh nein, Herr Doktor, Sie sind da völlig auf dem Holzweg", entgegnete der nervöse Herr lächelnd und erhebt sich, „ich bin keineswegs krank, - ich bin lediglich mit meiner Nervosität einer heiklen Situation aus dem Weg gegangen. Ich habe auf meinem längst ungültigen Fahrschein nur das Datum zerbissen, um ungehindert meinen Heimatort zu erreichen. Meine Nervösität war also, gezwungenermaßen, nur Schauspielerei. So, jetzt wissen Sie die Wahrheit, Herr Doktor - auf Wiedersehen - und weiterhin gute Fahrt."
Flink wie ein Wiesel verlässt der Herr das Abteil.
Der Psychiater wirft empört seine Zeitung auf den Boden und zischt: „Nein, so etwas! Unerhört! Unerhört!"
Als er jedoch merkt, dass der dicke Herr, die Fussballfans und auch ich laut und herzhaft lachen, da ändert auch er seine Meinung - und lacht schallend mit.

© Horst Rehmann
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