GRENZWERTIGE GRATWANDERUNG

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heuberger
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GRENZWERTIGE GRATWANDERUNG

Beitrag von heuberger »

GRENZWERTIGE GRATWANDERUNG
( THESE + ANTITHESE = SYNTHESE )
ODER
HEGEL MAL GANZ PRAKTISCH


Im Hauptbahnhof von Mainz stand ein alter Mann auf dem Bahnsteig, beim Fahrplanaushang, und wartete auf seinen Anschlusszug nach Ingelheim am Rhein. Und wie er so, auf seinen Stock gestützt, vor sich hin döste, kam ein anderer alter Mann, stellte sich neben ihn und fragte, ob er ihm helfen könne, die genaue Abfahrtszeit seines Zuges festzustellen.
Und so kam man ins Gespräch.

„Ich komme aus Amerika“, begann der Fremde, „und ich betreibe Ahnenforschung als Hobby. Vorher war ich Professor für Philosophy an einer University. Und jetzt haben mich ein paar Bekannte und Freunde gebeten, in den alten Kirchenbüchern in Mitteleuropa nachzustöbern, wohin ihre Vorfahren früher gezogen waren, bevor sie nach Amerika auswanderten.“ Er sprach ein nahezu akzentfreies Deutsch. – „By the way, sind Ihre Vorfahren auch groß umgezogen und gewandert in ihrem Leben?“, fragte er sein Gegenüber. Er selber sei irischer Herkunft. - „Nicht sonderlich,“ war die Antwort, „und wenn, dann zumeist innerhalb Deutschlands.“ Mit einer Ausnahme: Die Mutter sei bei ihrer Tante in der Schweiz aufgewachsen, sei aber bei Ausbruch des Krieges (1939) nochmals nach Deutschland gefahren und konnte dann nicht mehr zurück. Wie es halt so im Leben geht, die Grenzen waren geschlossen. Sie hatte ihre Möglichkeiten überschätzt. Und dann habe sie seinen Vater kennen gelernt, und dann nahm das Schicksal vollends seinen Lauf. Jedenfalls säße er nun seit 45 Jahren auf dem Heuberg, dem westlichsten Teil der Schwäbischen Alb, ganz nahe der alten Grenze zwischen Baden und Württemberg und könne so die Auswirkungen des Hegelschen Satzes : These + Antithese = Synthese sozusagen am eigenen Leibe erleben und mithin die Probe aufs Exempel machen.

„Und so sitze ich seit vielen Jahrzehnten auf dem Heuberg, den Blick nach Süden, die Schwaben zur Linken, die Badener zur Rechten, die freien Schweizer vor mir, und die Hohenzollern samt Preußen im Genick, und warte auf das Wunder der Synthese aus Schwaben und Badenern, aber, entweder dauert das noch viel länger, oder es ist unbemerkt geblieben. Von einem Quantensprung im Bewusstsein konnte ich bis jetzt jedenfalls noch nichts feststellen. Und die Zeit drängt allmählich.“

Und da ihm nichts weiteres einfiel, so beschloss er, fortzuziehen, um diesem Dilemma zu entkommen. Zuerst zog er donauabwärts, nach Riedlingen am Bussen, ganz nah an dem Ort gelegen, wo er Kindheit und Jugend verbracht hatte. Nachdem dies aber auch keine große Änderung brachte, zog er weit in den Norden, nach Oldenburg, bei Bremen.
Hier nun machte sich der Abstand doch bemerkbar. Die ungelösten Fragen und Probleme des Südens verloren im Blick aus der Ferne erheblich an ihrer Dringlichkeit und Schärfe und schrumpften beinahe bis zur Unkenntlichkeit.

Vielleicht hilft es uns wirklich und hebt unser Wohlbefinden, dass wir unseren Standpunkt ändern, real oder auch bloß in unserer Vorstellung.
gerhard
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Re: GRENZWERTIGE GRATWANDERUNG

Beitrag von gerhard »

Es ist eigentlich gar nicht schwer,"Grenzen zu überschreiten"!

Wenn ich in Salzburg bin,fahre ich gern mit der Seilbahn auf den Untersberg: ein bisschen rumwandern,
und schon bist du und bin ich von Salzburg nach Bayern,von Österreich nach Deutschland gelangt.

Und dabei war das früher gar keine Grenze,weil der "Rupertiwinkel",das bayerische Berchtesgadener Land,
sehr lange zum Erzbistum Salzburg (als dieses ein eigener Staat war!)gehörte!

Sehr beeindruckt war ich beim Wandern am berühmten "Dreisesselberg": geh ich dorthin,bin ich in
Tschechien,geh ich dorthin,bin ich in Deutschland,geh ich dorthin,bin ich wieder in Österreich!

Und das sind nur geografische Grenzen!

Aber wer traut sich,geistige Grenzen,"Grenzen",die Menschen zwischen sich errichten,zu überschreiten??
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