KINDERMUND IV

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heuberger
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KINDERMUND IV

Beitrag von heuberger »

Manche Begriffe mit doppelter Bedeutung, die aber den Kindern noch nicht klar ist, führen gelegentlich zu grotesken Missverständnissen, sehr zum einseitigen Vergnügen der Erwachsenen.
Hier bitte ich aber inständig, bei solchen Anlässen den Kindern immer das Gefühl zu vermitteln, sie werden angelacht, aber niemals ausgelacht.

Das Rätsel der Gebärmutter

Als ich noch Junglehrer war, „jung“ bedeutet hier vor allem auch unerfahren und daher noch sehr naiv, spielte sich diese Geschichte ab: Ein Mädchen kam etwas verspätet zur Schule, und sagte: „Herr Lehrer, heute hätt ich beinahe nicht in die Schule kommen können.“ Auf meine Frage nach dem Warum meinte sie: „ Meine Mama ist heut Nacht ins Krankenhaus gekommen, mit dem Krankenwagen. Sie hat ein Kind gekriegt.
Ich war damals noch der Meinung, dass alle Dinge und Vorkommnisse korrekt mit ihrem richtigen Namen ausgesprochen werden müssten. Also formulierte ich: „Du willst uns sagen, Deine Mutter hat ein Kind geboren.“ Da schaute mich das Kind mit einem merkwürdigen Blick an und meinte: „Na ja.“, so, als wollte sie sagen, was drückt der sich aber auch bloß immer so geschwollen aus. Ein anderes Kind aber, ein Junge, fing sozusagen den Ball auf und verkündete im Brustton der Überzeugung: „Donnerwetter, jetzt habt Ihr zuhause aber eine richtige Gebärmutter!“ Da konnte ich gerade noch herausbringen, das sei etwas anderes, aber ich verstünde, was er meinte. Dann musste ich mich umdrehen, um mein Lachen zu verbergen. Von da an bin ich etwas vorsichtiger geworden mit meinen Formulierungen.
Später habe ich der besagten Mutter einmal die ganze Geschichte erzählt. Sie lachte daraufhin und sagte, ihre Tochter hätte einmal zuhause gefragt, was eine Gebärmutter sei, sie habe das Wort in der Schule gehört. Da habe sie bei sich gedacht, was hält der Lehrer bloß für einen merkwürdigen Unterricht? Sie habe sich aber nicht so recht getraut, nachzufragen. Ab und zu treffe ich heute noch diese „Gebärmutter“ im Dorf, dann grinsen wir uns fröhlich an wie zwei alte Verschworene.

Später stieß ich dann einmal auf diese Formulierung in einem Schulaufsatz über einen Aufenthalt in einem Ferienlager: „Nicht weit von unserem Zeltlager entfernt war ein Heim für ledige Mütter. Dort konnten sie ihre Kinder gebären und zwei Jahre lang mit ihnen zusammen wohnen. Einmal, als wir auf einer Wanderung singend an dem Heim vorbei zogen, lag dort solch eine Gebärmutter, halb aufrecht sitzend, angelehnt, auf dem Fenstersims in der Morgensonne, in einer Hand ein Buch, ein Bein hing lässig aus dem Fenster, und winkte uns mit der freien Hand freundlich zu.“ Das muss man sich einmal so richtig bildhaft vorstellen.

Am allerheftigsten schlug aber bei mir persönlich eine Gebärmutter zu, als ich bereits im vorgerückten Alter war, erbarmungslos, unerwartet, aus dem Hinterhalt, unfassbar und beinahe unbegreiflich in ihren Auswirkungen.
Und das kam so: Mit 62 hatte ich mit viel Glück (und wenig Verstand?) eine Lungenembolie überstanden. Von da an musste ich regelmäßig ein Mittel zur Blutverdünnung einnehmen (Marcumar), dessen Wirkung auch regelmäßig kontrolliert werden musste. Drei Wochen nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war Weihnachten. Ich wollte die Feiertage bei Freunden in Bitterfeld verbringen. Also musste ich dort auch zur Blutabnahme („Quicktest“) ins Krankenhaus gehen. Die Werte waren zufriedenstellend.
Nach mehreren Wochen bekam ich die Rechnung zugeschickt. Als ich die öffnete und las, brach meine ganze, bisher so sicher geglaubte Welt krachend zusammen. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Jeder Halt ging verloren. Denn als Diagnose stand da: GUTARTIGE NEUBILDUNG UTERUS. Das war ungeheuerlich! Ich traute meinen Augen nicht. Da kniff ich sie zusammen und las anschließend nochmals. Da stand immer noch GUTARTIGE NEUBILDUNG UTERUS. Es half nichts, so stand es da.
Ich habe die fatale Neigung, fremden Behauptungen oft mehr zu vertrauen, als meiner eigenen Beobachtung und meinem eigenen Wissen. Insbesondere bin ich irgendwann irgendwie sehr wissenschaftsgläubig geworden. Um mich selbst zu schützen, sage ich dazu grundsätzlich zunächst immer „NEIN“, um mir Zeit zu verschaffen, selbst gründlich nachzudenken, und solche Behauptungen zu prüfen. Mein gesamtes, mühsam erworbenes Wissen geriet hier ins Wanken. Keinerlei Sicherheit mehr, alles Vertraute war plötzlich weg.
So muss man sich wohl als Neugeborenes vorkommen: Man weiß nichts, gar nichts, alles ist grell, laut, kalt, man fühlt sich völlig allein und hilflos. Und so machte sich ein lähmendes Gefühl der Verzweiflung breit. Allmählich aber setzte der Verstand dann doch wieder ein, und so beschloss ich, nachzuforschen, was jetzt stimmt, all mein bisheriges (vermeintliches?) Wissen oder die kühne Behauptung auf der Rechnung.
Also las ich diese nochmals aufmerksam durch. Die Adresse stimmte, somit war also ich gemeint. Dann entdeckte ich, dass diese Rechnung des Krankenhauses in Bitterfeld bei einer Firma in Berlin erstellt worden war. Das hieß, dass sowohl im Krankenhaus, als auch in diesem Büro eine Verwechslung geschehen sein konnte. Und so beschloss ich, zu versuchen, die ganze Angelegenheit durch einen einfachen Test zu entwirren.
Oben, am Briefkopf, war eine Telefonnummer der Firma angegeben, die die Rechnung ausstellte. Dort rief ich an. Eine freundliche Frauenstimme meldete sich und fragte, was sie für mich tun könne. Da erklärte ich, dass ihre Firma mir eine verwirrende Rechnung geschickt hätte, die ich nicht so recht verstünde, und darum um ihre Hilfe bäte. Ich gab ihr auch die Rechnungsnummer durch, und sie schaute auf ihrem Pc nach. Nach kurzer Zeit hatte sie die Rechnung gefunden. Da wurde ich gefragt, ob ich mit dem Betrag (10 Euro) nicht einverstanden wäre. Ich verneinte, der Betrag sei in Ordnung, aber ich verstünde die Diagnose nicht so recht, ob sie bitte da mal nachsehen könnte. Eine Weile tat sich nichts. Dann aber kam ein lautes Gelächter aus dem Hörer.

DIE WELT WAR GERETTET.
MIR GING ES WIEDER GUT.
ALLE DINGE WAREN WIEDER AN IHREM ANGESTAMMTEN PLATZ!

Wäre die Dame in meiner Reichweite gewesen, ich wäre ihr glatt um den Hals gefallen. Aber so bedankte ich mich überschwänglich für ihre Auskunft. Sie versprach, mir eine neue Rechnung, mit der richtigen Diagnose zu senden. Und die kam denn auch nach kurzer Zeit. Neue Diagnose: GUTARTIGE NEUBILDUNG. Ich war´s zufrieden, denn jetzt erlebte ich eine gutartige Neubildung meines Selbstverständnisses. Eine Kopie der alten Rechnung brachte ich zu meinem Hausarzt. Der fing beim Lesen an, laut zu lachen, und nahm das Schriftstück zu meinen Krankenakten, als „aufheiternde Einlage“. Ich selber überlegte, ob die Patientin, deren Diagnose ich bekommen hatte, die meinige erhielt. Wenn ja, so hoffe ich, dass sie anlässlich einer „unbemerkt“ überstandenen Lungenembolie keinen allzu großen Schrecken erleiden musste.
Das Original der Rechnung hängt jetzt über meinem Schreibtisch. Es soll mich an trüben Tagen aufheitern, und daran erinnern, nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen, sondern grundsätzlich alle Meldungen zuerst mal auf ihre Echtheit zu überprüfen.
Aber dennoch frage ich mich, warum oder wozu solcherlei Vorfälle immer mir passieren. Von anderen Menschen höre ich sehr selten, dass sie derlei Dinge erlebten. Und rein selektive Wahrnehmung kann hier auch nicht vorliegen, diese Rechnung war an mich persönlich gerichtet. Vielleicht sollte ich aber auch daran erinnert werden, dass das Überleben einer Lungenembolie so etwas ist wie eine Wiedergeburt zu einem neuen Leben, mit all den anfänglichen Schrecken. Ich hatte das alles einfach beiseite geschoben. Vielleicht sollte ich dieses Ereignis mehr schätzen

Auf jeden Fall bin ich aber fest entschlossen, mich von keiner neugebildeten Gebärmutter mehr erschrecken und jagen zu lassen, und sei sie auch noch so gutartig!
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