KINDERGEBURTSTAG DES SCHRECKENS

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heuberger
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KINDERGEBURTSTAG DES SCHRECKENS

Beitrag von heuberger »

Wir gehen fälschlicherweise immer davon aus, dass Kinder süß, lieb, unschuldig und dauernd höflich sind. Doch auch hier spielt uns unser Wunschdenken, das uns eine Welt in rosa Tüllwölkchen vorgaukeln will, einen üblen Streich.
Kinder sind süß, lieb, unschuldig und höflich - aber nur gelegentlich, eher selten.
Oft sind sie auch böse, hinterhältig, heimtückisch, verschlagen und richtige kleine Monster.
Die meiste Zeit aber sind sie hilflos, verängstigt, eingeschüchtert und halten die Luft an in der Hoffnung, dass das Unheil sie so nicht fände. Als Kinder haben wir das noch alle gewusst. Aber später haben wir dies Wissen verdrängt. Es sollte unsere Illusion einer schönen, perfekten Welt vollkommener Harmonie nicht stören. -
Wie bitte? Bosheit kann sich auch hinter Unschuld verstecken? Vielleicht kann da diese Beichte ein wenig über die Hintergründe aufklären.

Zu einem Kindergeburtstag war ich als einziger Junge eingeladen. Damals war ich fünf oder sechs Jahre alt und ging noch nicht zur Schule. Er wurde für mich zu einem Tag der Peinlichkeiten, dieser Tag des Schreckens.
Das Geburtstagskind hieß Uta-Brigitte. Der Name passte! Die Eltern arbeiteten alle beide. Der Vater hatte ein Büro im Dorf. Die Mutter arbeitete als Sekretärin des Vaters. Versorgt wurden wir Kinder von der Großmutter des Geburtstagskindes, einer alten Dame, die gnadenlos auf Einhaltung der Etikette bestand, oder besser, auf das, was sie für Etikette hielt. Um dies durchzusetzen, scheute sie auch nicht davor zurück, einzelne Kinder bloßzustellen.
Ich wurde Uta-Brigitte gegenüber am Geburtstagstisch platziert. Dass sie so eine Art Kontrollfreak war, merkte ich aber erst später. Es begann, als wir uns an den Tisch gesetzt hatten. „ Setz Dich aufrecht hin und scharre nicht so mit den Füßen!“ sagte sie in befehlendem Ton zu mir. Mir war zwar nicht bewusst, dass ich irgendwie mit den Füßen gescharrt hätte, aber ich beschloss, besonders ruhig und brav am Tisch zu sitzen, bloß um ja nicht noch eine weitere Zurechtweisung zu riskieren. Doch die kam sehr rasch.
Der Kakao war gerade eingeschenkt. Als ich an die Reihe kam, mich aus der Zuckerdose zu bedienen, zischte die Großmutter: „Man nimmt nicht so viel Zucker, hat man Dir das denn zuhause nicht beigebracht?“ Ich hatte einen halben Kaffeelöffel voll Zucker in meinen Kakao getan. Also beschloss ich, die nächste Tasse bitter zu trinken, bloß aus Gefälligkeit.
Als dann alle Kinder Ihren Kakao hatten, und als auch noch Kuchen gereicht war, da wollten wir zu trinken beginnen, als plötzlich Uta-Brigitte ihre Tasse hoch erhob und laut ausrief: „Nicht wahr, Oma, ick hab dat schönste Tässchen!“ Dabei sprach sie ein derart langgezogenes „ö“, dass es klang, als riefe sie: „Ick hab dat schööönste Tässchen!“ Wir blickten alle auf ihr Gedeck. Sie hatte eine Art Sammeltasse, alle drei Teile, Tasse, Untertasse und Kuchenteller mit dem gleichen Dekor. Das war damals große Mode. Vielleicht hatte sie es geschenkt bekommen und wollte uns animieren, durch die Schönheit ihrer Tasse ihre eigene Vorzugsstellung zu bewundern und zu bestätigen. Aber wir taten ihr den Gefallen nicht. Die Oma aber antwortete: „Ei, gewiss doch, mein Schatz, Du hast dat allerschönste Tässchen.“
Unsere Gedecke waren zwar auch ganz nett, wie wir meinten, allerding von jeweils verschiedenem Dekor, bunt zusammen- gewürfelt. Ich selbst hatte die einzige Tasse aus Aluminium, ohne Untertasse, dafür jedoch mit wackeligem Henkel, der Teller war aus Porzellan oder Steingut, den Unterschied kannte ich damals noch nicht.
U.-B. knurrte mich an, ich solle nicht so viel schmatzen beim Essen, und nicht so laut schlürfen beim Trinken. Außerdem müsse man bei Tisch die Ellenbogen immer aufstützen. Gerade noch war ich zutiefst geknickt, ob der Behauptung, ich hätte keine Tischmanieren, aber jetzt spitzte ich die Ohren. Wie hatte sie gesagt? Man stützt die Ellenbogen bei Tisch auf? Das wusste ich jetzt besser.
Und so fragte ich, ob sie das denn etwa schön fände, wenn man die Ellenbogen aufstützte, und dabei die Fäuste im eigenen Gesicht habe. Die Reaktion erstaunte mich aufs höchste. Wie elektrisiert hob sie ihre Tasse und rief: „Ick hab dat schööönste Tässchen!“ und dann die Großmutter: „Ei gewiss doch, mein Schatz, Du hast dat allerschönste Tässchen!“
Allmählich wurde der schreckliche Nachmittag doch etwas interessanter.
Ich hatte damals zwar noch nie etwas vom Pawlowschen Hund gehört, aber das Prinzip war mir sofort klar. Ich musste bloß noch den Auslöser finden, der diese erstaunliche Reaktion hervorrief. Vor Aufregung stach ich mit dem Kaffeelöffel, es gab keine Kuchengabeln, ein Stück von meinem Kuchen ab, führte es zum Munde und aß es.
„Man dreht nicht den Löffel hundertmal im Mund herum“ bemerkte U.-B. spitz, „und außerdem hält man die Tasse nicht mit der Faust, sondern mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger. Der kleine Finger wird dabei abgespreizt.“ Da fuhr sie meine Nachbarin zur Rechten, Doris, regelrecht an: „Jetzt lass den Buben doch endlich mal in Ruhe seinen Kuchen essen!“ Ich blickte sie dankbar an, und beschloss, mein neues Wissen auszuprobieren. Ich vermutete, dass U.-B. auf das Wort „schön“ reagierte.
„Danke, Doris“, sagte ich, nahm meine Tasse, wie gefordert, spreizte dabei den kleinen Finger, führte sie graziös an die Lippen und flötete: „Es ist einfach schön, so eine Geburtstagsfeier!“ Und tatsächlich, die Tasse ging hoch
- „Ick hab dat schööönste Tässchen!“
und kurz danach:
„Ei gewiss doch, mein Schatz, Du hast dat allerschönste Tässchen.“
Und gleich nochmals, gewissermaßen zur Probe:
„Draußen ist so ein schöner Tag.“
Tasse hoch:
„Ick hab dat schööönste Tässchen!“ und
„Ei gewiss doch, mein Schatz, Du hast dat allerschönste Tässchen.“
Hurra, es klappte! Jetzt konnte ich die verdammte Göre steuern, und tanzen lassen, und brauchte nicht mehr ihre Anwürfe zu fürchten. Ich brauchte nur etwas „schön“ zu finden und dies auch laut zu verkünden, und schon schnurrte bei ihr das ganze Programm ab, samt dem albernen Geschwätz der Großmutter.
Doch dazu kam es gar nicht mehr. Ich musste mal aufs WC (Sowas hatten die damals bereits schon), und als ich fertig war und zurück wollte, hörte ich, wie drinnen Geschirr auf den Boden fiel, und dort klirrend zu Bruch ging.
Als ich hereinkam, lag vor mir „dat schööönste Tässchen“, in Scherben. Aber es hatte seine Pflicht getan, und konnte jetzt auch nach seinem Auftritt, sowohl als Getränkebehälter, als auch als zierendes und notwendiges Siegesrequisit der Triumphatorin getrost in den Müll geworfen werden. („Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, … .“)

Die Großmutter wollte den Tisch abräumen und schickte uns Kinder deshalb hinaus auf den Hof zum Spielen. Dort sollte mein Gewissen erneut beschwert werden.
Es standen mehrere Puppenwagen herum, alle mit Decken und Kissen ausgeschlagen und mit Puppen belegt, manche gar doppelt. U.-B. wies jedem Kind einen solchen Wagen zu. Ich bekam einen hohen Korbwagen mit rustikal rot-weiß karierter Decke und Kissen, und zwei Vorhängen aus demselben Stoff. Darin lag eine Puppe mit flachsblonden Zöpfen und mit beweglichen Schlafaugen. Wenn man sie hochnahm und etwas bewegte, sollte sie gar „Mama“ rufen.
U.-B. sagte, dies sei Margarethe, und sie sei jetzt mein Kind, und ich sei ihr Papa, und ich müsste mich jetzt um mein Kind kümmern. Jetzt beschränkte sich aber mein Wissen über Babies damals auf ein Minimum. Also beschloss ich, zunächst abzuwarten, was die anderen Kinder mit ihren Puppen machten.
„Nein, nein, Du bist der Vater, und alle Väter müssen sich um ihre Kinder kümmern.“ kommandierte das Geburtstagskind eifrig und barsch. Jetzt hatte ich bei meinem eigenen Vater bisher aber noch niemals gesehen, wie er mit Puppen spielte (auch nicht mit anderen „Puppen“, zumindest nicht, wenn ich dabei war), also fehlte mir das männliche Vorbild. Aber U.-B. drängte. Am liebsten hätte ich herausgefunden, wie der Mechanismus mit den Schlafaugen funktionierte. Aber das wagte ich dann doch nicht.
Also schnappte ich mir Margarethe, fasste sie an ihrem besten Henkel, dem linken Fuß und hob sie aus dem Wägelchen. So stand ich da, die Puppe am Fuße haltend, deren Kopf, Arme und Zöpfe hingen nach unten, und wusste nicht, was ich tun sollte. Auf diese Art musste ich wirklich ein Bild des Schreckens abgegeben haben.
Nun rastete die Puppenmutti verbal völlig aus: “Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen!“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe. Ich musste mich auf eine Bank setzen und von dort aus dem Spielen der Mädchen zuschauen. Es war das beste, was mir unter den gegebenen Umständen passieren konnte.
So allmählich wurde mir das alles aber doch langweilig, und ich beschloss, nochmals den Trick mit „dat schööönste Tässchen“ auszuprobieren. Laut rief ich: „Ihr spielt aber schön mit Euren Puppen.“ Ein schwaches Kopfnicken war die gesamte Reaktion darauf. Der Trick samt meinem Wissen hatte diesmal kläglich versagt. Darum betete ich innerlich „lieber Gott, mach, dass die Zeit schneller vergeht, damit ich jetzt dann bald nach Hause gehen kann.“ Aber Gott schien noch kein Einsehen mit mir zu haben. Im Gegenteil, er ließ mich geradewegs ins Verderben laufen.

Obwohl die Sonne noch am Himmel stand, war es nun doch merklich kühler geworden. Da sagte U.-B.: „So, nun gehen wir alle in mein Zimmer hoch und spielen dort weiter.“ Oben angekommen sagte sie: „Wir spielen jetzt Besuch beim Doktor.“ Ich wurde zum Arzt befördert, ein anderes Kind, Gisela, wurde zur Krankenschwester ernannt, U.-B. selber war die leidende Patientin, der ich helfen sollte.
Zuerst musste Schwester Gisela mir ein Handtuch als Mundschutz umbinden. Dann legte U.-B. sich mit Leidensmiene auf ihr Bett, jammerte ein wenig, dann stöhnte sie: „Ach, Herr Doktor, mir geht es gar nicht gut, alles tut so schrecklich weh. Tun Sie, was Sie jetzt tun müssen (Das sagte sie wirklich so.), fangen Sie an, mich zu untersuchen. Fangen Sie oben am Kopf an“. Also untersuchte ich brav ihre Haare, Stirn und Augen, fand aber nichts krankhaft Verändertes. „Und jetzt die Ohren“, wurde mir befohlen. Also fasste ich an ihre Ohren und bemerkte, dass ihre Ohrläppchen angewachsen waren. Sonst war nichts Ungewöhnliches an ihnen.
„Du musst unbedingt ins Ohr hineinschauen“, kommandierte die leidende Patientin. Dabei hielt sie auffordernd ein selbstgebasteltes Wattestäbchen hin. Um ein Streichholz war oben etwas Watte gewickelt. Dieses gab sie Schwester Gisela, der Assistentin, und die gab es an mich weiter.
UND DAMIT SOLLTE ICH JETZT IN IHR OHR HINEINFAHREN.
Jetzt wusste ich aber, dass es höllisch wehtat, wenn man mit solch einem Wattestächen zu tief in das Ohr hineinfuhr. Also wollte ich ganz vorsichtig sein, um sie nicht zu verletzen. Aber nichts da! „Jetzt mach doch mal endlich, Du Feigling! Du musst da richtig zustoßen und eindringen!“ Und da drang ich denn richtig ein.
Die Wirkung war ungeheuer. Mit einem lauten Schrei fasste U.-B. sich ans Ohr, drehte sich weg und wimmerte: „Mein Trommelfell, mein Trommelfell!“ Da stürzte die Großmutter ins Zimmer: „Was ist geschehen?“
„Der da hat mir das Trommelfell zerrissen, huhu, das tut so weh!“ „Du böser Junge,“ meinte die Großmutter, „wir hätten Dich besser nicht einladen sollen!“ (Für ihre letzte Bemerkung gab ich ihr vollkommen Recht!).
Die anderen Mädchen kümmerten sich um die Verletzte. Und wieder war es Doris, die am schnellsten wieder bei Verstand war: „I wo, das Trommelfell ist nicht gerissen. In ein paar Minuten tut das auch schon nicht mehr weh.“ verkündete sie klug und weise. Wenn ich bloß gewusst hätte, was das geheimnisvolle Trommelfell eigentlich war, das reißen konnte, und wie ich mich dieses Vergehens schuldig gemacht hatte. Was hatte ich da bloß angerichtet?
Ich hatte keine Ahnung, was ich da angestellt haben sollte, war aber froh über die Bemerkung der Großmutter, die ich als willkommenen Rausschmiss begriff, nahm meine Jacke vom Haken und verließ schnell dieses schreckliche, ungastliche Haus.
Daheim fragte ich, was ein Trommelfell sei. Die Antwort beruhigte mich nicht. Ich traute mich nicht, zu erzählen, was alles vorgefallen war. So schlich ich in den nächsten Tagen bang und mit äußerst schlechtem Gewissen umher.
Nach ein paar Tagen klingelte es an der Haustür, und die Mutter von U.-B. stand draußen. O weh, das war der Tag meiner Hinrichtung! Ich schlotterte vor Angst. Trotzdem war ich neugierig genug, um mich an die Tür des Wohnzimmers zu schleichen, um vielleicht ein paar Gesprächsfetzen zu erhaschen. Zu meiner Verblüffung hörte ich nur ein lautes Lachen der beiden Frauen. Die Hinrichtung war also verschoben.
Dennoch vermied ich von da an möglichst den Kontakt mit der Familie von U.-B., sie war es mir dann doch nicht wert, mich erneutem Stress auszusetzen.
Und als fünf Jahre später die Oma starb, weigerte ich mich standhaft, auf ihre Beerdigung zu gehen. Alle Vorhaltungen nützten nichts, ich blieb stur; spielte höchstens mit dem Gedanken, eine alte Tasse auf den Sarg hinabzuwerfen, so, dass sie zerdepperte, und dann auszurufen: „Ei gewiss doch, mein Schatz, da hast Du dat allerschööönste Tässchen!“ Ich hatte es nicht vergessen.
Uta-Brigitte mauserte sich aber später noch zu einer angenehmen Zeitgenossin.
Die peinliche Erinnerung jedoch, die blieb. Sie verfolgte mich noch eine lange Zeit.

Bis mir eines Tages schlagartig das Groteske der damaligen Situation, mitsamt ihrer ganzen Symbolik aufging. Und jetzt verstand ich auch endlich, warum unsere Mütter damals so laut und herzlich gelacht hatten, als ich an der Tür lauschte.
Ich will mich aber aus Gründen der Wohlanständigkeit nicht weiter darüber auslassen und mich jetzt gar aus dem Fenster lehnen, und erneut Anstoß erregen.
Nur soviel: Ich merkte, dass ich U.-B. all ihre Bosheiten und Demütigungen, ihre ganzen Zickereien, sozusagen „auf einen Stoß“, heimgezahlt hatte.
Beim Doktorspielen hatte ich ihr, unbewusst, einen richtigen "Ohrgasmus" verschafft.
Was für eine Rache der boshaften Unschuld!
O DRASTISCHE SYMBOLIK, SEI GEPRIESEN !
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Ihr Trommelfell aber war dabei heil geblieben, immerhin.
:D
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