DIE VORZEITIGE AUFERSTEHUNG

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heuberger
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DIE VORZEITIGE AUFERSTEHUNG

Beitrag von heuberger »

Immer wieder sind wir verblüfft, wenn wir feststellen, dass Kinder die Welt um sich herum ganz anders wahrnehmen und deuten als die Erwachsenen. Insbesondere alle Dinge, die mit Tod und Sterben zu tun haben, werden von uns Erwachsenen gnadenlos ernstgenommen und dürfen unter gar keinen Umständen locker betrachtet, oder gar spielerisch bewältigt werden, wie es die Art der Kinder ist. Da packt uns blankes Entsetzen. Das tun wir denn auch laut und lärmend kund, und hinterlassen die ertappten Kinder in peinlicher Ratlosigkeit.

In seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ stellt jedoch Schiller bereits u.a. fest: DER MENSCH IST NUR DA GANZ MENSCH WO ER SPIELT. Ohne jetzt näher darauf einzugehen, müssen wir feststellen, dass wir als Erwachsene die Welt um uns herum ausschließlich mit dem Verstand wahrnehmen und ordnen. Kinder dagegen eignen sich die Welt ausschließlich im Spiel an (ohne bis dahin jemals Schiller gelesen zu haben).

Wir waren eine Gruppe von Kindern, deren Familien in der engeren oder weiteren Nachbarschaft lebten. Dazu gehörte auch ein kleines Mädchen, Christiane, ein Kind im Alter von drei Jahren. Ihre Mutter hatte einen französischen Soldaten der Besatzungsarmee geheiratet, und so kam es, dass mitten im oberschwäbischen Bauerndorf ein kleines französisches Mädchen lebte, zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter in einem armseligen Haus, wie nahezu alle Leute damals im Dorf, das kein Wort Französisch sprach, sondern genauso breites Schwäbisch, wie wir anderen Kinder auch. Der Vater war kurz nach ihrer Geburt gestorben, und so erlitt sie ein ähnliches Schicksal wie die meisten anderen Kinder, sie wuchs ohne Vater auf. Die Väter waren entweder im Krieg gefallen, oder sie waren noch in Kriegsgefangenschaft. Es sind auch die Kinder und die Frauen, die die Folgen eines Krieges tragen müssen.

Nun war jene besagte Christiane ein Kind von zarter und schwacher Konstitution, das des öfteren krank wurde. Sie hatte einen auffallend blassen Teint, außerdem ermüdete sie schnell. Und so erlebten wir es als folgerichtig, dass es eines Tages hieß, Christiane sei schwer krank und müsse wahrscheinlich bald sterben. Wir Kinder nahmen dies mit Gleichmut zur Kenntnis und gingen weiterhin unseren Spielen nach. Trauern („nach rechter Art“) lernen Kinder von den Erwachsenen um sie herum.

Es kam, wie es vorherzusehen war. Christiane kam ins Krankenhaus. Es hieß, sie habe eine schwere Krankheit des Blutes. Wenn man ihr Blut abnehme, so sei das nur ganz hellrosa, beinahe weiß. Sie hatte Leukämie. Das war damals eine nahezu unheilbare Krankheit, die beinahe immer zum Tode führte.

Ihre Mutter, die als Verkäuferin in einem Kaufhaus in Saulgau arbeitete, hatte ihr noch einen neuen, großen Teddybären gekauft. Ende November kam sie ins Krankenhaus. Weihnachten hat sie dann schon nicht mehr erlebt. Ihr Teddybär aber lag dann am Heiligen Abend bei uns unter dem Christbaum, für mich. Mein eigener, der klein, arg ramponiert, und nicht mehr so ganz neusauber war, wurde wohl heimlich entsorgt.

Und so kam es zum Minieklat unterm Weihnachtsbaum: Ich weigerte mich, mit dem neuen Bären zu spielen und verkündete, das sei nicht mein Bär. Und ich wolle meinen eigenen Bären wieder haben. Den Hinweis, dass dieser Bär doch neu, sauber, groß und schön sei, tat ich mit einer Handbewegung ab, das sei nicht mein Bär, ich wolle nicht Bären haben, die mir nicht gehörten. Auch der Hinweis auf den unhygienischen Zustand des alten Bären brachte mich voll in Opposition. Kinder interessieren sich einen Sch…dreck für Hygiene, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht, wie etwa um den Verbleib des geliebten Teddybären. Ich wolle meinen alten wieder haben.

Irgendwie konnte ich aber nicht klar machen, dass ich den neuen Bären ablehnte, weil er Christiane gehörte, und man dürfe ihr doch nicht einfach das Spielzeug wegnehmen und jemand anderem geben, bloß weil sie gestorben war. Ich bestand darauf, meinen alten Bären wieder zu bekommen. Als mir nun auch noch mitgeteilt wurde, dass der längst im Ofen gelandet und verbrannt sei, war für mich Weihnachten endgültig versaut.Ich hatte zwar einen großen Schub in meiner Entwicklung weg vom Kleinkind hin zum Jugendlichen erlebt, aber dieser Prozess war doch derart schmerzhaft, dass ich begriff, selbständig zu werden bedeutet, dass das alte, bedingungslose, Vertrauen zu den Erwachsenen, auch zu den allernächsten, schlagartig verloren geht. Von diesem Zeitpunkt an ging ich mit meinen Eltern vorwiegend sachlich um. Dinge, die mich emotional bewegten, vertraute ich meinen Freunden an, aber nie mehr meinen Eltern.

Nach dieser etwas grimmigen Abschweifung ( auch heute noch! ), soll es aber etwas munterer weitergehen. Auch hier spielt die verstorbene Christiane indirekt noch eine bedeutende Rolle. Wie bereits erwähnt, trauern Kinder ganz anders, als wir das wahrhaben können und wollen. Es ist zumeist weniger Traurigkeit dabei, dafür mehr Neugier und der Versuch, die Tatsache des Verlusts als eine Art Verwandlung des Lebens zu begreifen.

Ich erinnere mich, dass ich im Frühjahr nach der Beerdigung des kleinen Mädchens, die auf uns Kinder einen tiefen Eindruck gemacht hatte, vor allem durch das hemmungslose Weinen und Schluchzen der Erwachsenen - dies machte uns richtig Angst - selber im Garten kleine Gräber errichtete für tote Vögel und Mäuse, die man häufig fand. Eine Reihe hatte ich schon. Als ich dann das fünfte Grab errichten wollte, sah mich meine Mutter vom Küchenfenster aus, und meinte streng: „Nun ist aber genug!“ Also blieb mein kleiner Tierfriedhof hinter dem Haus, zwischen Erdbeeren und Tomaten, nur teilbelegt und wurde dann auch wieder aufgelassen. Der Vater grinste nur dazu.

Aber die Beerdigung wirkte immer noch nach. Mit meiner Busenfreundin, Doris, sie war das Nachbarskind, spielte ich das ganze Geschehen nach. Sie war 2 Jahre älter als ich, und wir spielten täglich zusammen, heckten gemeinsam Streiche aus, und man konnte mit Fug und Recht von uns sagen, dass wir unter einer Decke steckten. Bei schönem Wetter waren wir auf der Straße, wenn es kühl war oder gar regnete, dann waren wir entweder bei ihr oder bei mir.

Wir spielten an diesem Tag bei uns, im Wohnzimmer. Dort stand neben dem großen Sofa noch ein kleineres Canapé. Das hatte drei hohe Beine aus Holz, das vierte war abgebrochen und wurde durch aufeinandergestapelte Ziegelsteine ersetzt. Das Ganze wurde durch eine große Decke, die elegant über das Liegemöbel drapiert war, und bis zum Boden reichte, verdeckt. Besucher wurden diskret zu anderen, noch heilen Sitzgelegenheiten geleitet, um dann dort Platz zu nehmen. Ich bitte zu bedenken, das war so kurz vor dem Jahr 1950. Der Krieg war noch nicht lange zu Ende, und das Geld reichte gerade, um sich die nötigsten Nahrungsmittel zu leisten, und Heizmaterial, und um Miete und die Stromrechnung zu bezahlen. Da musste der Wunsch nach neuen Möbeln weit hintan gestellt werden.

Wir spielten also Christianes Beerdigung nach. Dazu legte ich mich unter das Canapé, zog die Decke wieder herunter, und lag sozusagen als teurer Verblichener in meinem Grab. Neben dem Canapé stand ein Tischchen mit einer kleinen Vase darauf. Dort waren ein paar Blumen, Stiefmütterchen und Gänseblümchen. Die verteilte Doris nun auf der gesamten Liegefläche, in Reih und Glied, über mir, genauso phantasievoll, wie man etwa Salatpflänzchen ins Gartenbeet pflanzt.

In diesem Moment ging die Wohnzimmertür auf, und meine Mutter trat herein, um nachzusehen, was wir spielten. Vermutlich waren wir verdächtig still geworden. Ich hörte sie fragen: „Was spielt Ihr denn Schönes?“ Doris antwortete: „Mir schbielet, dr Manfred ischd g´schdorba, ond i tu r m ´s Grab richta.“ (Wir spielen, der Manfred sei gestorben und ich tu ihm das Grab herrichten.)

Da fiel etwas klirrend zu Boden. Es war die Kaffeekanne, die die Mutter in die Küche tragen wollte. Dann kam ein nahezu hysterisches Stöhnen: „UM GOTTES WILLEN! SO ETWAS DARF MAN DOCH NICHT SPIELEN! DAS BRINGT UNGLÜCK! WIE SCHRECKLICH! RÄUMT DAS SCHNELL WIEDER AUF!“ - Irgendwie typisch erwachsen halt. –

Mit einem Satz fuhr ich hoch, schlug dabei mit dem Kopf an die Stahlfedern des Polstermöbels, und holte mir da eine Schramme an der Stirn. Nach alter Polstererhandwerkskunst waren die Federn der Liegefläche noch einzeln von Hand geschnürt. Daran war ich so heftig gestoßen, dass eine der Federn, gottseidank lag sie am hinteren Rand, den alten, morsch und mürbe gewordenen, das heißt, brüchigen, Bezugsstoff, mit einem deutlich hörbaren „boing“ durchbrach und befreit und entspannt herausragte. („Von nun an stand dem Canapé eine Feder in die Höh´“) Man lebte aber damals in einer Zeit des Improvisierens und Flickens. Daher waren derlei Unglücke kein Beinbruch. („Damit dies weiter nicht auffällt, hat man ein Kissen davorgestellt.")
Und so standen wir belämmert da, und mit einem schlechten Gewissen, als wären wir beim Doktorspielen erwischt worden.

Damit war dann aber unser Hunger nach Beerdigungsspielen endgültig gestillt, und wir konnten uns wieder anderen Aspekten des Lebens zuwenden.

Ich gewann aber die Einsicht, dass wohl auch die fröhlichste Auferstehung noch von ganz realen Schmerzen begleitet wird (insbesondere, wenn sie von Erwachsenen veranlasst wurde).
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