HUNGERSNOT

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heuberger
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HUNGERSNOT

Beitrag von heuberger »

DIE FAHRT NACH LANGENMAGEN

Wir leben in einem Land, das böse Hungersnöte kennengelernt hat. Von den frühesten Vorkommnissen, die einst, neben anderen, die Völkerwanderung ausgelöst hatten, über die Mangelernährung das ganze Mittelalter hindurch, die Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges, dann die Ereignisse der Neuzeit, zumeist auch Kriege und Besetzungen, die, trotz Einbürgerung neuer Nutzpflanzen, Kartoffeln, Bohnen u.s.w., die stetig wachsende Bevölkerung nicht vollständig ernähren konnten.
Unsere Geschichte hier handelt von einer weitaus harmloseren Begebenheit, die aber der Person im Mittelpunkt garantiert mindestens ebenso schrecklich erschien, wie uns, in der kollektiven Erinnerung, der "Kohlrübenwinter" von 1916/17 zur Zeit des 1. Welt-kriegs.

Dazu gesellt sich noch ein wunderbarer "Freudscher Versprecher", eine motiviert gesteuerte Fehlleistung, der es schließlich gelang, unsere dreifache Skepsis zu überwinden und uns zur Änderung unseres Handelns zu bewegen.
Freud hätte seine helle Freude daran gehabt!

Nach eineinhalb Jahren im Schuldienst wurde ich überraschend als einziger Lehrer einer "wenigge-gliederten" Grundschule in ein Dorf auf dem Heuberg versetzt.
Das heißt im Klartext, ich wurde der alleinige Lehrer für die vier Klassen der Schule, abgesehen vom katholischen Religionsunterricht, den der Ortspfarrer hielt, und Handarbeitsunterricht, gehalten von der Kindergarten-leiterin, damals eine katholische Ordensschwester.

Es gab also viel zu tun. Nebenher wollte ich mich auch ein wenig in das Ortsleben integrieren. Also suchte ich nach einem für mich passenden Verein, dem ich beitreten konnte. So wurde ich Mitglied des Schwäbi-schen Albvereins e.V., und bekam denn auch prompt die Aufgabe aufgebrummt, den Jahresausflug der Ortsgruppe (das hieß wirklich noch so!) zu organisieren. Zu derlei logistischen Aufgaben gehörte damals in den finsteren Vorinternetzeitaltern auch das Abfahren der Strecke, Quartier bestellen am Zielort, und das Aushandeln vernünftiger Preise mit anständigen Rabatten.
Also fuhren wir los an einem Vormittag in den Ferien, der Postbote des Dorfes, seine Frau - beide Mitglieder des Albvereins - und deren kleine Tochter, nennen wir sie hier einfach Rita. Rita war Erstklässlerin und meine Schülerin.
Ich war an diesem Tage der Chauffeur. Unser Reiseziel war Damüls in Vorarlberg in Österreich, ein sogenannter Walserort, gegründet um etwa 1300 von Auswanderern aus dem schweizerischen Wallis.

Wir fuhren los auf dem Heuberg. Dann ging die Fahrt über Tuttlingen und Immendingen nach Geisingen. Dort fuhren wir weiter auf der Autobahn nach Singen. Anschließend ging unsere Fahrt weiter, immer am Ufer des Bodensees entlang bis nach Bregenz, und von dort nach Süden bis Dornbirn, dann auf Landstraßen nach Damüls.
Wir kamen überein, bei der Klosterkirche Birnau am Bodensee unsere erste Rast zu machen. Dort besichtigten wir die barocke Kirche, bewunderten auf der großen Terrasse davor die wunderbare Aussicht über den See, lästerten brav und ausgiebig über die furchtbar bösen Kirchenführer, die an den schönsten und besten Plätzen ihre Gebäude errichten ließen, von den armen und unterdrückten Landleuten, die schrecklich fronen mussten.
Dann genehmigten wir uns ein opulentes zweites Frühstück, um anschließend gestärkt die Weiterfahrt antreten zu können.

Von der Straße aus wuren die Pfahlbautenvon Unteruhldingen sichtbar. Die kleine Rita auf dem Rücksitz wurde unruhig.
"Was gispelst Du denn andauernd herum, und willst nicht stillsitzen?" fragte die Mutter.
"Ach, Mama, ich hab Hunger!" ertönte es vom Rücksitz. "Hä?" war die erstaunte und ungläubige Frage darauf, dreifach.
Da sagte Rita, sie habe schrecklichen Hunger und müsse unbedingt etwas essen, sonst würde sie die Fahrt nicht lebendig überstehen. Man war inzwischen bereits an Meersburg vorbeigefahren, auf dem Weg nach Immenstaad. Das Mädchen hörte nicht auf, über Hunger zu klagen. Ihre Stimme wurde flehend. Das bisschen Essen, das sie bekommen hatte, sei einfach viel zu wenig gewesen.
Wir Erwachsenen waren platt. Sollten wir uns dermaßen getäuscht haben über das Fassungsvermögen eines Kindermagens?
NEIN NEIN VOR DEM MITTAGESSEN GIBT ES NICHTS MEHR ZU SCHNEUKEN! (Wimmern auf dem Rücksitz.)
Als nächstes Geschütz fuhr die Mutter das gewichtige Argument "Gesundheit" auf.
Warum bilden sich Mütter nur ein, ihre Kinder interessierten sich auch nur im geringsten für Gesundheit, wenn sie Gelüste nach etwas Essbarem haben?
Ganz im Gegenteil: Gesundheit interessiert sie einen Sch ... marren! Ist die doch verbunden mit so unangenehmen, peinlichen und schmerzhaften Dingen wie Arztbesuch, fadem Essen, das man brav in die Backentaschen schiebt, um sie bei nächster Gelegenheit auf dem WC wieder auszuspucken und loszuwerden.
Liebe Eltern, wenn Ihr also beim nächsten Mal feststellt, dass Eure Kinder Euer Essen, das Ihr ihnen auch noch als besonders gesund anpreist, brav, aber ohne Entzücken, in sich hineinstopfen, und häufiger als sonst auf dem Klo verschwinden, dann wird es allerhöchste Zeit, den Speiseplan zu ändern.

Inzwischen hatten wir bereits die Stadt Friedrichshafen durchfahren. Die Ortstafel kam in Sicht.
NACH
LANGENARGEN
6 km

"O seht," rief die kleine Rita entzückt, "was da steht:
WIR KOMMEN NACH LANGENMAGEN!"

Beinahe hätte ich das Lenkrad verrissen vor Lachen.
Ich hielt am Straßenrand. Wir drei Erwachsenen lachten aus vollem Halse. Und ich glaube, auch der alte Sigmund Freud, selig, hat lauthals mitgelacht, ob dieser wunderbaren Fehlleistung.
Und so legten wir auf unserer Fahhrt nach Damüls einen weiteren Zwischenstop ein, in Langenmagen.
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