Wer hat Angst vorm "bösen" Wolf?

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gerhard
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Wer hat Angst vorm "bösen" Wolf?

Beitrag von gerhard »

In einem Wald lebte ein Wolf,der sich oft darüber ärgerte,dass ihm und den anderen Wölfen viele sehr schlimme
Dinge nachgesagt wurden:

Sie seien "grosse böse Wölfe",auf nichts anderes aus als darauf, Geisslein - bevorzugt solche,die mit ihrer Mama
in einem Haus(!)lebten - sowie drei Schweinchen - von denen auch jedes in einem Häuschen wohnte - zu verspeisen
- von Mädchen und deren Grossmüttern ganz zu schweigen!

Als er noch ein kleiner Wolfswelpe gewesen war,hatte ihm seine Mama etwas sehr Interessantes erzählt: in einem
fernen Land namens Indien hatten Wölfe etwas getan,worüber ein Schriftsteller namens Kipling nur geschrieben
hatte:

Und während in den "Dschungelbüchern" nur ein Kind,der Junge Mogli, von den Wölfen aufgezogen wurde, waren
das,so erzählte es seine Mama,sogar zwei Kinder,zwei Mädchen,gewesen.

Die Wölfe hatten die beiden Mädchen so sorgsam und liebevoll wie möglich aufgezogen,ihnen aber natürlich nicht
alles beibringen können -Sprechen zum Beispiel lernten die Mädchen erst,nachdem sie von anderen Menschen "entdeckt"
worden waren.

Und natürlich hatten sie viele "wölfische" Verhaltensweisen gehabt:auf allen vieren laufen,heulen und so.

Ein Mädchen starb übrigens sehr früh -worüber das andere schrecklich unglücklich war!

Aber das ältere Mädchen wurde immerhin nach menschlichen Begriffen etwa 16 Jahre alt,und am Ende seines kurzen
Lebens konnte es ganz gut sprechen,auf einem Stuhl sitzen und mit Besteck essen.

Also,so dachte der Wolf:"Warum werden gerade wir Wölfe,die ein Ei,ohne es zu beschädigen,zwischen den Zähnen
halten können,die mit den anderen Mitgliedern des Rudels alles teilen, die sogar menschliche Kinder aufziehen, als
"böse" hingestellt?"

Und während der Wolf über das alles nachgrübelte,kam zuerst mal ein leckeres Reh vorbei - und nachdem er es
verspeist hatte,sah er ein vielleicht zehnjähriges hübsches Mädchen,das ein rotes Käppchen trug und einen Korb
mit einer Weinflasche darin bei sich hatte.

"Hallo,mein Kind!"grüsste er das Mädchen freundlich - denn zumindest Kinder können,manchmal jedenfalls,die
Sprache der Tiere verstehen.

"Darf ich dich fragen,wo du hin möchtest,so allein im Wald?"

Das Mädchen blickte den Wolf erschrocken an:"Du willst mich doch nicht fressen?"

"Warum sollte ich? Ausserdem hab ich gerade ein sehr leckeres Reh verspeist. Nein,ich tu dir sicher nichts!
Möchtest du mir sagen,wo du hinwillst?"

"Zu meiner Oma!"

"Die du sicher lieb hast,nicht wahr? Aber ich verrate dir was: Es gibt eine gaaaanz schlimme Krankheit,und leider
ist es so,dass gerade alte Menschen daran erkranken.Und du bist so ein junges Ding. Ich will jetzt von dir nicht
verlangen,dass du deine Oma nicht mehr lieb haben sollst!

Aber vielleicht kannst du deinen Besuch bei ihr mal vorläufig verschieben - bis es weniger Erkrankte geworden sind.
Was meinst du dazu?"

"Hm!"machte das Mädchen und schob nachdenklich die Unterlippe vor:"Vielleicht hast du recht. Mein Onkel züchtet
Brieftauben.Ich werde Oma eine Taube mit einem Brief schicken und ihr versichern,dass ich sie sehr,sehr lieb habe!"

"Gute Idee!"sagte der Wolf:"Und ich werde -im Gespräch mit den anderen Tieren im Wald -dafür sorgen,dass nicht
irgendein Waldtier auf die Idee kommt,gerade diese Brieftaube für eine leckere Mahlzeit zu halten!"

"Dankeschön!"sagte das Mädchen strahlend,streichelte den Wolf und gab ihm sogar einen Kuss auf die Schnauze:
"Du bist wirklich kein "böser" Wolf! Tschüß,und einen schönen Tag noch!"

Covidvariante: „Bitte keinen Kuss,mein liebes Kind! Und verwende
bitte dein Käppchen als Maske! Und verlass den Wald möglichst rasch,bevor du vom Förster eine hohe Strafe von womöglich 500 Golddublonen bekommst!“


Jahre vergingen,und der Wolf wurde alt und noch grauer,als er ohnehin schon war. Und eines Tages sah er eine junge Frau,die mitten im Wald ein Zelt aufbaute,daneben eine Kamera,und „Test!“ein Tonbandgerät einschaltete.
„Hallo!“Sie lächelte ihm zu:“Es freut mich sehr,dich wiederzusehen!“

„Wer sind Sie? Und wieso und wie können Sie mit mir reden?“
„Das konnte ich doch damals auch!“ Die junge Frau zog aus einem Rucksack eine rote Kappe hervor und setzte sie auf.
„Das gibt‘s doch nicht!“sagte er:“Du warst ein sehr hübsches Mädchen,zehn Jahre,nicht wahr? Und du bist eine sehr schöne junge Frau geworden!“ „Oh,Dankeschön! Du wirst gewiss wissen wollen,was ich hier mache: Ich bin jetzt Biologin,und weil immer noch zu viele
Menschen an „den Großen Bösen Wolf“ „glauben“,möchte ich den Leuten vermitteln,was für beispielhaft soziale Geschöpfe ihr Wölfe seid!“(etwas anderes verschwieg die nunmehrige Biologin ihrem alten Freund,weil sie ihm nicht wehtun wollte:in Kanada,wo durch Pipelines und Abholzung immer mehr Lebensraum zerstört wurde,kamen „Experten“,darüber besorgt,dass die Rentiere immer weniger wurden, auf eine „Lösung“(???):
Knallen wir doch einfach möglichst viele Wölfe ab!!)

„Das finde ich schön! Du hast dich,wie gesagt,äußerlich verändert,ich mich natürlich erst recht -ich hab übrigens schon viele Enkel! -,aber innerlich bist du,keine Frage,das selbe sehr aufgeweckte und sehr liebevolle Mädchen geblieben!Also,sei -wieder-in unserm Wald herzlich willkommen -Rotkäppchen!“
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