ICH WAR IHR BABY

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heuberger
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ICH WAR IHR BABY

Beitrag von heuberger »

SONNTAG Jetzt sind es bereits drei Tage her, dass ich in dieser tristen Umgebung bin, und jedesmal, wenn sich Schritte nähern, dann klopft mein Herz ganz wild vor Aufregung und Freude. Aber bisher gingen diese Schritte immer an meiner Tür vorbei. Zweimal am Tag geht die Tür auch auf. Dann schiebt mir jemand etwas zu essen und zu trinken herein. Der macht aber die Türe gleich wieder zu, bevor ich richtig reagieren kann. Ich habe aber sowieso keinen Hunger. Drum rühre ich das Essen auch kaum an. Ich warte dauernd darauf, dass die Türe aufgeht, und dann werde ich wieder abgeholt, nach Hause, zu meinen Lieben. Aber bis jetzt hat sich noch nichts getan. Wenn nur die Tage nicht so lang wären! Um die Zeit des Wartens ein bisschen zu verkürzen, habe ich beschlossen, ein wenig zu berichten, wie es hier so zugeht, ein Tagebuch zu führen.

MONTAG Vier Tage sind vergangen, seit ich hier bin. Hoffentlich holen meine Eltern mich heute ab. Ich will endlich wieder nach Hause. Habe wieder kaum was gegessen. Drum werd ich auch immer magerer. Ich schlafe jetzt viel. Was soll ich auch sonst tun? Meine eigene schöne Decke aus meinem Bett hat man mir weggenommen. Warum, das weiß ich nicht. Manchmal höre ich Stimmen aus den Räumen links und rechts von meinem Zimmer, aber ich reagiere nicht, will keinen Kontakt aufnehmen. Ich will nur heim. Und wieder sind sie nicht gekommen.

DIENSTAG Fünf Tage, und immer noch kein Besuch von meinen lieben Eltern. So allmählich mache ich mir doch Sorgen. Hoffentlich ist ihnen nichts geschehen, ihnen oder dem Baby. Es ist ja noch so hilflos. Wenn ich doch bloß wüsste, was passiert ist.

MITTWOCH Heut ist der sechste Tag seit ich weg bin von daheim. Ich hab geträumt, ich wäre Zuhause gewesen. Es war Nachmittag und wir saßen im Garten hinter dem Haus.
Die Eltern saßen am Kaffeetisch, und ich habe mit dem Baby gespielt. Ach, war das schön. Und dann bin ich aufgewacht, hier im Elend. Es ist zum Verzweifeln!
Wann kommen sie denn endlich und holen mich wieder zurück?

DONNERSTAG Der siebte Tag - sie waren wieder nicht da, und haben auch nichts von sich hören lassen. Kein Gruß nichts
Ach, was ist das für ein Leben!
FREITAG Tag acht - eine Woche ist es her, und immer noch kein Lebenszeichen von meinen Lieben. Ich will jetzt doch Kontakt aufnehmen zu meinen Nachbarn in den angrenzenden Zimmern. So wird mir die Zeit des Wartens doch etwas verkürzt.

SAMSTAG Der neunte Tag - Das war ein Fiasko gestern! Links neben mir haust das ältliche Edelfräulein Susi. Irgendwie werde ich mit der nicht warm. Sie redet oft unverständliches Zeug, von Vermittlung und so. Das ist nichts für mich.
Ach, wann kommen denn meine Lieben? Heute? Oder morgen?

SONNTAG Tag zehn - Heut will ich es einmal mit meinem Nachbarn zur Rechten versuchen. Er heißt Bodo, ein etwas knurriger Typ. Aber sonst macht er doch einen ziemlich umgänglichen Eindruck. Viel lieber wäre mir aber, wenn heute Nachmittag meine Familie kommt und mich wieder heimbringt. Ich hab Heimweh. Und heut ist Sonntag.
SONNTAGABEND Sie sind wieder nicht gekommen. Was soll ich bloß machen?

MONTAG Wieder so ein öder Tag! Heute werd ich mich mal mit Bodo unterhalten. Vielleicht weiß der, was ich in meiner Lage tun kann.

MITTWOCH Tag 13 Bodo ist absolut kein guter Umgang für mich! Behauptet der doch einfach, meine Familie wolle mich nicht mehr, und so hätte sie mich eben ins Heim gebracht, und ich würde sie niemals wieder sehen.
Sein Geschwätz hat mich aber so verstört, dass ich gestern nichts essen konnte, und die meiste Zeit geschlafen habe. Jetzt habe ich doch richtig Angst. Aber so etwas würden meine Eltern niemals tun. Bestimmt findet sich eine ganz einfache und natürliche Erklärung für ihr Verhalten, wenn sie mich wieder abholen. Hoffentlich ist dem Baby nichts passiert!

DONNERSTAG Der 14. Tag Dem Bodo hab ich es aber heute Morgen gegeben. Wie kann er es wagen, solcherlei Unsinn über mich und meine liebe Familie zu reden! Behauptet der doch glatt, meine Eltern seien gar nicht meine Eltern, und ich sei nur ihr Spielzeug gewesen, das man wegwirft, wenn man es nicht mehr gebrauchen kann. Allein schon die Ausdrucksweise. Dabei haben meine Eltern doch immer wieder zu mir gesagt: Du bist unser Baby. Also, was redet der Bodo da für einen Blödsinn? Ist er denn so voller Neid? Als sich dann das zweite Baby angekündigt hat, wie haben wir uns alle da gefreut. Und später, als man schon ein bisschen sehen konnte, da habe ich immer den Kopf auf Mamas Bauch gelegt und gehorcht, wie das Herz des Babys klopfte. Ich habe ein sehr feines und gutes Gehör. Und jetzt behauptet der Idiot, das sei gar nicht meine Familie. Schande über ihn!
Als ich ihm das alles sagte, da hat er nur frech gegrinst, und gesagt, ich würde schon noch darauf kommen. Nein, nein, meine Familie ist meine Familie, meine Eltern sind meine Eltern, und das Baby ist mein Brüderchen! Wir haben immer zusammen gespielt.
Jetzt könnten sie aber wirklich bald kommen und mich heimholen. ICH WILL HIER RAUS ! ICH WILL HEIM !

FREITAG 15 Tage, zwei Wochen, ist es her, dass mein Papa mich am Morgen ins Auto setzte, und dann mit mir hier her fuhr. Ich fahre immer mit großer Begeisterung im Auto mit. Dann hat er mich hier hereingebracht, da war so eine komische Frau, zu der hat er gesagt: Da ist er. Und dann hat er mir kurz über den Kopf gestrichen und etwas gemurmelt, so wie „a gut“, mehr hab ich nicht verstanden, und ist dann ganz schnell ins Auto zurück und weggefahren. Ich dachte, er geht zum Friseur. Vielleicht ist aber das Baby krank geworden, und sie müssen immer zu ihm ins Krankenhaus, dass sie darum sich nicht blicken lassen. Das wird es sein. Hoffentlich wird das Baby bald wieder ganz gesund. Dafür will ich beten. Jetzt geht´s mir wieder etwas besser, seit ich daran gedacht habe.

SAMSTAG Der 16. Tag seit ich hier bin. Und immer noch kein Lebenszeichen von meinen Lieben. Was ist denn los?
Am Samstag hat Papa immer das Auto gewaschen, und ich hab mit dem Baby gespielt. Das war wunderbar. Und Mama hat etwas Gutes gekocht. Und dann haben wir alle gegessen. Ach, das war einfach schön. Das will ich doch auch wieder. Es ist später Nachmittag, und sie sind wieder nicht gekommen. Was ist denn los?
ICH MACH MIR GANZ GROSSE SORGEN.

SAMSTAGABEND, und wieder sind sie nicht gekommen. Jetzt leg ich mich hin und versuche, zu ruhen. Aber ich werde wohl vor Sorgen nicht schlafen können.

SONNTAGMORGEN Ich habe etwas Schreckliches gehört. Ich hab mich gerade im Foyer mit Bodo unterhalten, als der Direktor des Hotels ankam, zusammen mit der komischen Frau, die uns immer so anfasst und dann merkwürdige, unverständliche Dinge sagt. Der Direktor zeigte auf mich und meint: „Mit dem wird es noch längere Zeit dauern, bis wir ihn an ein neues Herrchen vermitteln können. Der trauert immer noch und lässt den Kopf hängen, sowas schreckt potentielle Interessenten ab.“ Seine Begleiterin nickte bloß.
Verständnislos blickte ich Bodo an. Der sagte in einem Anflug von Mitgefühl: „Dämmert´s so langsam? Dies ist kein Hotel. Dies ist ein Tierheim. Deine Menschen haben Dich abgegeben, weil sie Angst haben, Du könntest eifersüchtig auf das Baby sein und könntest es verletzen. Vielleicht hat es auch eine Allergie. Ich wollte ihm an die Gurgel springen. „Wieso sagst Du zu meiner Familie meine Menschen? Ich bin das doch auch.“
Bodo grinste: „Nein, Du bist nur ein Hund, und sie sind Menschen. Die halten uns zu ihrem Vergnügen; und wenn sie von uns genug haben, dann geben sie uns einfach weg, wenn sie nicht noch schlimmeres tun.“

"ACH!"

JETZT MAG ICH NICHT MEHR !

MITTWOCHMORGEN Ich habe nichts gegessen und nur ganz wenig getrunken. Ich fühle mich ganz schwach. Mein Atem geht stoßweise und alles tut mir weh.

Aber einen letzten Brief will ich noch an meine Leute schreiben.

AN MEINE LIEBEN ELTERN;
ICH WAR DOCH AUCH EUER BABY. SOGAR EUER ERSTES. WARUM HABT IHR MICH DENN BLOSS SO EINFACH WEGGEGEBEN? ICH VERSTEH EUCH NICHT. HABT IHR MICH DENN GAR NICHT MEHR LIEB? WARUM NUR? WARUM? HAB ICH WAS SCHLIMMES GETAN, DASS IHR MICH BESTRAFT?
DENKT IHR WENIGSTENS NOCH AB UND ZU AN MICH? ICH DENKE VIEL AN EUCH. DANN WIRD MIR DAS HERZ SCHWER.
Hier ist es einfach trostlos - ganz Trost – los

DAS BABY BLEIBT MEIN BRÜDERCHEN SO LANGE ICH LEBE.


https://www.youtube.com/watch?v=BV37qZki31U
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Stiekel
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Re: ICH WAR IHR BABY

Beitrag von Stiekel »

Lieber Manfred,

da trauert man doch mit und das Adagio for Strings Op.11 / Samuel Barber passt zu der Stimmung.
Ob Menschen, die Tiere weggeben, weil sie ihnen lästig werden, sich Gedanken machen, wie sie sich fühlen?
Du hast das sehr einfühlsam geschildert.

Lieben Gruß von Sabine
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Nur wer sich selber liebt ist fähig,
auch andere zu lieben.
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heuberger
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Re: ICH WAR IHR BABY

Beitrag von heuberger »

Danke, liebe Sabine.
Ich weiß, das ist alles sehr rührselig und massiert die Tränendrüsen.
Und dies ist voll beabsichtigt.
Vielleicht sollten wir uns auch mal fragen, warum uns traurige Geschichten über Tiere näher gehen als solche über Menschen.
Liebe Grüße
Manfred
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