DER WUNSCHZETTEL

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heuberger
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DER WUNSCHZETTEL

Beitrag von heuberger »

Ich war damals gerade in der dritten Klasse. Meine Kusine Liselotte war aus der Schweiz zu einem langen Besuch gekommen. Eigentlich sollte sie deutsch lernen, aber es war so, dass ich eher etwas französisch lernte. Sie war zehn Jahre älter als ich, gerade 18 geworden.
Das für mich besondere an ihr war, dass sie ein Aquarium mit drei Goldfischen mitgebracht hatte. Die hießen Hans, Walter, Ernst, benannt nach ihren drei hartnäckigsten Verehrern, die jeden Spätnachmittag und Abend ums Haus strichen - Futter für die Fische musste in der 7 km entfernten Kreisstadt (Saulgau) besorgt werden. Mit dem Fahrrad.
Ich wollte unbedingt auch solche Fische haben.
Zu der Zeit befand ich mich gemütsmäßig wohl noch in einer verspäteten magischen Phase. Jedenfalls schnitt ich mir aus Papier Fische aus, malte sie mit gelbem Buntstift an, füllte ein großes Weckglas mit Wasser, setzte da meine Papierfische hinein und erwartete, sie durch bestimmte Zaubersprüche oder Gebete zum Leben zu erwecken.

Die Eltern duldeten dies augenzwinkernd. Sie waren beide Anhänger einer freien, liberalen Erziehung.

Meine Fische erwachten nicht zum Leben. Irgendwie hatte ich wohl die falschen Zaubersprüche gemurmelt, bzw. nicht inbrünstig genug gebetet. Dafür fing aber nach einiger Zeit das Wasser im Glas an zu stinken, die Papierfische legten sich auf die Seite und trieben so an der Oberfläche.
Ich ließ mich darum aber nicht verdrießen und beschloss, sie gesamte Fischwerdung zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu versuchen.

Mittlerweile wurde es Winter, und wir waren bereits im Advent.
In der Schule hatte sich damals auch das Prinzip des Gesamtunterrichts einigermaßen durchgesetzt. In der Aufsatzerziehung hieß also folgerichtig das Thema: Brief an das Christkind. Gemeint war der gute alte Wunschzettel. Jedes Kind sollte seine eigenen Wünsche aufschreiben. Natürlich wünschte ich mir diesmal Aquariumfische. Und dies stand denn auch in meinem Brief ans Christkind.
Da ich als Schüler ziemlich gut war im Rechtschreiben, das heißt, ich machte bei der Niederschrift eines Textes nur wenige, bzw. gar keine Fehler, setzte mich unser Klassenlehrer, Herr Halbherr, als Hilfskraft ein. So durfte ich die Texte der Kinder, meiner Mitschüler, zunächst als Entwurf auf Konzept aufgeschrieben, durchsehen und korrigieren, bevor sie ins Reine niedergeschrieben wurden.

Diesmal bekam ich den Entwurf einer Klassenkameradin, Sieglinde. Sie war ein Flüchtlingskind. Ich kannte noch ihre ältere Schwester, Waltraud und ihre Mutter; den Vater kannte ich nicht.
Sie schrieb: „Liebes Christkind, ich wünsche mir auf Weihnachten dringend ein Paar warme Hausschuhe, dass ich den ganzen Winter über nicht mehr so schrecklich frieren muss an den Füßen.“
Sie hatte dies in einem Stil geschrieben, der etwas unbeholfen klang. Außerdem war ein Rechtschreibfehler darunter.

Nachdem ich korrigiert hatte, kam ich doch sehr ins Nachdenken. Hier war ein Mädchen in meinem Alter, dessen sehnlichster Weihnachtswunsch es war, ein Paar warme Hausschuhe zu bekommen, während ich mich sozusagen nach Aquariumfischen „verzehrte“. Plötzlich kamen mir alle meine Sorgen und Nöte luxuriös vor. Ich konnte es mir leisten, von Goldfischen zu träumen, während meine Schulkameradin zuhause an den Füßen fror. Nun wusste ich sehr gut, was es hieß, an den Füßen zu frieren, wenn man den ganzen Nachmittag draußen beim Schlittenfahren war, und erst dann auf vor Kälte erstarrten Füßen heimwärts humpelte. Dort wurden sie zunächst in eine Schüssel mit kaltem Wasser gestellt, und erst, wenn sie begannen zu „beißen“, dann legte man sich vor den Küchenherd, der schon längst ausgegangen war, aber im Backofen immer noch etwas Restwärme zurückhielt. Dort steckte man dann die immer noch kalten Füße hinein, bis sie allmählich wieder warm durchblutet wurden. Eine Wohltat.

Also, ich wusste gut, wie es sich anfühlte, an den Füßen zu frieren. Aber ich hatte damals noch keine Ahnung, was langes Frieren wirklich bedeutete. (Das lernte ich erst ein paar Jahre später kennen. Ich hatte nur ein Paar Winterschuhe. Wenn die innen nass waren, das geschah jeden Tag, so mussten sie einen ganzen Tag lang trocknen, denn es gab kein Holz zum Feuern, und keine teure Zeitung, deren Blätter man in die Schuhe hineinstopfen konnte. Also konnte ich im Winter nur jeden zweiten Tag in die Schule gehen. An den „Ruhetagen“, an denen meine Schuhe trockneten, musste ich im Bett bleiben, denn das wenige Holz reichte gerade zum Kochen, nicht, um zusätzlich zu heizen.)

HUNGERN IST SEHR SCHLIMM, ABER FRIEREN IST VIEL SCHLIMMER, ES IST GERADEZU UNERTRÄGLICH.

Der Aufsatz, den das Mädchen schrieb, wurde so zum Brief ans Christkind, der auch an mich gerichtet war.
Daheim habe ich diese ganze Geschichte erzählt (mit einer ganz bestimmten Absicht. Mein Vater war damals Bürgermeister der Gemeinde. Und so dachte ich, dass man auf diesem Wege vielleicht etwas "deichseln" könne, um Abhilfe zu schaffen).

Und so hoffe ich inständig, dass Sieglinde ihr ganzes Leben lang nie mehr frieren musste, weder an den Füßen, noch am Herzen.
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