DIE HEIMLEUCHTUNG

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heuberger
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DIE HEIMLEUCHTUNG

Beitrag von heuberger »

Meine persönliche Geschichte zu Weihnachten

Es war in der Adventszeit 1958. In kurzer Zeit sollte ich 15 werden. Ein für mich sehr ereignisreiches, heftiges Jahr ging zu Ende. Zunächst bahnte sich ein Umzug innerhalb des Dorfes an, von einer Bruchbude in eine andere, der dann im August stattfinden sollte.
Aber bereits im Januar war ich ins Dorf zurückgekommen, nachdem ich etwa ein halbes Jahr bei meinem Vater gelebt hatte. Eine schreckliche Zeit voller Heimweh nach dem Leben auf dem Dorf, das ich als frei empfand, während in der Stadt alles nach engen bürgerlichen Regeln zu geschehen hatte. Das dauernde Lästern über fremde Menschen, das ich von meinem Zuhause nicht gewöhnt war. (Auch mein Vater hat sich nicht daran beteiligt.) Das hatte alles den Ruch nach Neid, Missgunst und Kleinkariertheit. Aber am schlimmsten waren die Versuche, Entscheidungen für mich zu treffen, eigentlich über mich, mit dem Hinweis, es wäre ausschließlich zu meinem Besten. So kann sich große Fürsorglichkeit manchmal ganz schnell als eine besonders heimtückische Form von Unterdrückung entpuppen.
WIE HABE ICH DAS GEHASST!
Mit meinem Vater habe ich zu der Zeit wohl keine drei Worte gewechselt. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Nie mehr. So war ich richtig froh, als die Frau, in deren Familie wir mitlebten, und die ich mit „Tante“ anzureden hatte, sehr krank wurde, und ich wieder zur Mutter zurück musste.
Kaum war ich wieder „daheim“ und begann, aufzuleben, kam die große Kälte. So um den 30. Januar herum schlug das Wetter um, und es legte sich eine Kälteglocke von Sibirien bis zu den Pyrenäen über das ganze Land. Diese Kälteperiode dauerte den ganzen Februar über an. Es wurden auch tagsüber keine Plusgrade erreicht, nicht annähernd. Nachts sank das Thermometer auf bis zu minus 25 Grad, und noch tiefer. Auf der anderen Seite des Bachs stand die Mühle, damals noch mit Wasserkraft betrieben. Hier fror nach ein paar Nächten das große, oberschlächtige Mühlrad völlig ein, und drehte sich nicht mehr, nachdem es zuvor noch tagelang einen Höllenlärm verantaltet hatte, als die Eiszapfen immer größer und mächtiger wurden. Auch die Zimmer wurden nicht mehr richtig warm. Die Fenster waren nur einfach verglast, saßen schlecht in ihren Rahmen und mussten mit Tüchern zugehängt werden, damit es nicht so sehr zog. Jetzt waren sie auch noch voller Eisblumen.
Aber dennoch setzte auch hier nach etwa 28 Tagen zögernd wieder Tauwetter ein. Nach einer Woche lebten wir alle wieder so, als wäre es niemals so schrecklich kalt gewesen. Dennoch blieb diese Wetterlage allen zeitlebens in Erinnerung.

Und es wurde Frühling. Wir Jungen gingen damals viel in die Wälder und entdeckten unsere Welt. Weitere Strecken fuhr man mit dem Fahrrad. Jeder hatte eines. Und so fuhren wir beinahe jede freie Stunde in den Wald zum „Jägerweiher“, das war ein kleiner, künstlich angelegter Tümpel, der von einem der Waldbäche durchflossen wurde. Dort spielten wir „Winnetou“ und andere Karl May Romane nach. Mitten im Jägerweiher war eine kleine Insel mit einer mächtigen Tanne darauf. Dort bauten wir eine kleine Hütte, mit einem wasserdichten Satteldach. Das Baumaterial mussten wir auf einem kleinen einfachen Floß zur Baustelle transportieren.

Beim Durchlesen fällt mir auf, wie anspruchslos wir damals lebten. Außer Radio, Büchern, ab und zu mal Fernsehen, gab es nichts, was uns hätte unterhalten können. Dafür mussten wir selber sorgen und uns etwas Passendes ausdenken. Vielleicht nicht die schlechteste Art, die Phantasie zu schulen.

Und dann im Hochsommer sollte der Umzug stattfinden. Und genau eine halbe Woche vor diesem großen Ereignis geschah am Nachthimmel etwas Großes, Furchteinflößendes. Etwa gegen 21:00 abends, draußen war es bereits stockdunkel, wurde der Himmel leuchtend rot, als ob ein Riesenfeuer wütete. Es kam damals häufig vor, dass ein Bauernhaus völlig abbrannte, dies gehörte mit zu den Schreckensereignissen meiner Kindheit und frühen Jugend. Dazu dann noch das fürchterliche, durchdringende Heulen der Sirenen, das das ganze Dorf gnadenlos aus dem Schlafe riss. Und dann das Getrappel der Füße der vielen Menschen, die, aus dem tiefsten Schlaf gerissen, übernächtigt zum Brandort eilten. Das machte Angst, wie eine Sinfonie von Sibelius beim erstmaligen Anhören und Erkunden.

Das Geheul der Sirenen saß uns noch allen in den Knochen von den langen Nächten im Krieg mit Bombenangriffen, und dann anschließend der Besatzungszeit. Dies hatte ich zwar als Baby noch miterlebt, aber keinesfalls vergessen, wie man so meint. Eher verdrängt, weil man die Geschehnisse nicht deuten konnte. Wir haben damals Dinge gesehen, die kein Baby sehen sollte. Daher erlebten wir alle auch eine mehr oder weniger angstbesetzte Kindheit.
Viele der alten Bauernhäuser wurden damals auch von ihren Besitzern selbst angezündet, um mit dem Geld, das die Feuerversicherung im Schadensfall auszahlte, den Hof wieder moderner und besser ausgestattet neu aufzubauen. Dabei wurde es sozusagen billigend in Kauf genommen, dass viele Tiere beim Brand mit umkamen.
Wir Menschen denken vor allem in Kategorien der Nützlichkeit und kümmern uns daher einen Dreck darum, wie es dabei unseren Mitmenschen und anderen Lebewesen unserer Umgebung ergeht.

Es war kein Feuer, es war Polarlicht, das diesen Feuerschein verbreitete. Es wurde so hell, dass man die Zeitung hätte lesen können. Mehr als zwei Stunden dauerte dieses Spektakel an, bis das Licht in ein milchiges Weiß überging, das nach und nach verblasste. Passend zu dem Naturschauspiel waren denn auch die Kommentare der Umstehenden. Eine besonders Eindruck gebietende ältere Frau verkündete geheimnisvoll: „Das bedeutet, dass es wieder Krieg gibt.“ Ein paar jüngere Männer fuhren ihr dabei verbal übers Maul, indem sie sie hießen, selbiges doch zu halten, anstatt dauernd blöde Sprüche loszulassen. Daraufhin verließ die Prophetin gekränkt den Schauplatz.
Der Umzug verlief ohne größere Störungen. Am Abend waren alle Beteiligten sehr müde, zufrieden mit der geleisteten Arbeit, und freuten sich, müde ins Bett gehen zu können.

Dann, Gegen Mitte Oktober, bekam ich öfters starke Bauchschmerzen, zusammen mit hohem Fieber und schrecklicher Müdigkeit. Es sah sehr stark nach Blinddarmreizung aus. Manchmal wurde ich aus dem Unterricht heraus nach Hause geschickt. Einmal sah mich so der Direktor unserer Schule. Ich muss kreidebleich gewesen sein. Er meinte nur: „Jetzt lass Dir doch endlich den Blinddarm herausnehmen, dann geht es Dir auch wieder besser!“ Das habe ich denn schließlich auch beherzigt. Bei der nächsten Blinddarmreizung blieb ich morgens im Bett, der Arzt machte einen Hausbesuch und überwies mich sofort zur Operation ins Krankenhaus.
Dort kam ich gegen drei Uhr nachmittags an, musste aber warten bis um 19:30 Uhr, weil anscheinend kein Krankenbett frei war. Die Wartezeit verbrachte ich auf einer harten Holzbank im Pförtnerzimmer, so zwischen Dösen, Dämmern und Bewusstlosigkeit. Und so lag ich denn nach der Operation vierzehn Tage im Krankenhaus in Saulgau.
Als ich wieder zuhause war, brauchte ich noch weitere 10 Tage nicht in die Schule zu gehen. Das war für mich das einzig Positive um die gesamte Operation. Die Schule hatte ich als Schüler immer gehasst. (Vielleicht musste ich deshalb, zur Strafe, mein gesamtes Berufsleben in der Schule verbringen. Dem Schicksal trau ich derlei Bosheiten ohne weiteres zu!).

Der Spätherbst war in den frühen Winter übergegangen. Es war kühl geworden, aber noch lag kein Schnee, obwohl es manchmal ein paar Schneeflöckchen schneite (hierzulande nennen wir das „fetzeln“).

Und wieder ging´s nach dem Mittagessen zusammen mit ein paar Freunden an den Jägerweiher, weit entfernt, am Waldrand. Diesmal war aber noch jemand dabei, auch ein ehemaliger Mitschüler, schon von der Einschulung her. Sinnigerweise hatte er denselben Vornamen wie ich, Manfred. Aber in meinen Kinderjahren war mein Sinn für Ironie noch gering entwickelt.
Ich konnte ihn nicht leiden, fand ihn geradezu ekelhaft.
Er mich auch.
Gelegentlich haben wir uns verprügelt; später, als auch der Verstand etwas gewachsen war, gingen wir uns gegenseitig aus dem Weg, das war zweifellos die gescheitere Lösung.
Und ausgerechnet jetzt war der auch dabei!
Ich nahm´s stoisch hin. Und so spielten wir den ganzen Nachmittag am Jägerweiher. Natürlich nannten wir das nicht mehr spielen, Schließlich waren wir keine Kinder mehr. Und das Selbstbewusstsein ist bei Jugendlichen erst im Werden begriffen. Also spielten wir nicht am Jägerweiher, sondern beschäftigten uns dort mit wichtigen Dingen. Das klingt einfach besser und bedeutender.

Nachdem wir uns also ausgiebig „beschäftigt“ hatten, begann es auch bereits zu dämmern. Niemand hatte auf die Uhr geschaut. Jetzt hatte ich damals bereits das Handicap, dass ich in der Dämmerung, bzw. Dunkelheit nur sehr schlecht sehen konnte. Das bedeutete, dass ich besonders vorsichtig und langsam fahren musste, denn die Fahrradlampen gaben nur ein spärliches Licht. Als wir uns auf den Heimweg machen wollten, bemerkte ich, dass mit meinem Fahrraddynamo etwas nicht stimmte: Die Lampe brannte nicht, alles blieb dunkel. Da bat ich meine Freunde, langsam zu fahren, so, dass ich in ihrer Mitte sicher mitfahren konnte.
Jetzt hatte plötzlich jeder eine eigene Ausrede, warum dies nicht möglich sei, und er unbedingt so schnell wie möglich nach Hause müsse. Einer nach dem andern fuhr los.

Ich kam mir ganz verlassen vor.

Also musste ich zu Fuß gehen und mein Rad schieben; das Fahren auf dem unebenen und kurvenreichen Waldweg wäre zu riskant gewesen. Ich stellte mich auf einen Heimweg von mindestens anderthalb Stunden ein.
Mittlerweile war es dunkel geworden, und ich trottete, mein Fahrrad schiebend und im Geiste meine Freunde verwünschend, dorfwärts.

Da kam mir plötzlich ein Licht entgegen, ein Radfahrer im finstern Wald. Ausgerechnet der ekelhafte Manfred!

Er hielt an, drehte und sagte mir, ich solle neben ihm herfahren.
Und so fuhren wir schweigend nebeneinander bis zur ersten Straßenlaterne.
Da bedankte ich mich bei ihm und wünschte ihm eine gute Heimfahrt.
Er fuhr davon.

Es dauerte lange, bis ich voll begriff, dass hier ein Wunder geschehen war, das ich benennen konnte. Ich war wirklich dem barmherzigen Samariter begegnet. Dass aber ausgerechnet der ekelhafte Manfred dem anderen ekelhaften Manfred voll „heimleuchtete“, das muss wohl eine ironische Dreingabe des Schicksals gewesen sein. Vielleicht gibt es gar mal eine „Heimfindung“.

Wir sind zwar keine dicken Freunde geworden, aber wir begegneten uns später immer mit einem Augenzwinkern und einem gewissen Respekt.

Man darf nicht zu viel erwarten.
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