Gewissen

[genok]

Erwin und Otto sitzen wieder in ihrem Stammlokal und erörtern die allgemeine Lage.
E: Na denn Prost, auf deine Gesundheit.
O: Du kannst dich doch hoffentlich erinnern, dass du uns noch eine Runde Bier schuldig bist?
Und denk daran, die von unserem letzen Besuch hast du dem Wirt auch noch nicht bezahlt.
E: Oh je, das habe ich ganz vergessen. Na gut, die nächste Runde geht auf mich. Ich glaube fast, ich werde langsam alt -
aber das hat auch seinen Vorteil.
O: Welchen denn?
E: Man meint, alles etwas klarer zu sehen - das könnte aber auch ein Trugschluss sein. Andererseits tummeln sich die Hormone nicht mehr so munter. Ich habe diesen trägen Typen schon gesagt: 'Macht weiter wie gehabt', aber die denken nicht daran.
O: Das kenne ich, bei mir liegt man auch nur faul rum.
E: Da fragt man sich, wer das Altwerden erfunden hat, und wo man sich beschweren kann. Aber ich glaube fast, diese Anlaufstelle gibt es gar nicht, und wenn, werden die Sprechstunden ungünstig liegen.
O: Wenn du wirklich alt wärst, könntest du nicht mehr so viel Bier trinken.
E: Warum nicht, ich bin zwar alt aber nicht so alt, und vor meinem letzten Atemzug trinke ich noch ein Glas - nun, mal sehen. Das eben war übrigens ziemlich spitzfindig von dir.
O: Das gebe ich gerne zu. Spitzfindig zu sein macht ungemein Spaß, regt an und ist ein netter Zeitvertreib - und bestenfalls widerspricht dir am Ende keiner mehr.
E: Das könnte bei dir fast der Sinn der Sache sein.
O: Es ist aber nicht spitzfindig, dich schon wieder an deine alte Rechnung beim Wirt zu erinneren. Du bist doch kein Zechpreller. Trotzdem könnte man dich verdächtigen und sogar dabei erwischen, wenn du so etwas vergisst. Also mich hat man schon oft erwischt.
E: Aha, bei was denn, und wer soll das gewesen sein?
O: Bei was, sage ich jetzt nicht, aber es war mein Gewissen - da braucht man gar nicht lange zu warten. Das Gewissen ist unberechenbar. Du denkst du hast keins, und auf einmal ist es da und sagt: 'Siehst du, so einfach mach ich es dir nicht. Eine Dummheit und schon klopfe ich bei dir an. Das mach ich dann ziemlich bald oder unverhofft nach Jahren. Wegducken kannst du dich nicht'.
E: Irgenwas wirst du schon angestellt haben. Um mein Gewissen kümmere ich mich nicht mehr so sehr.
O: Du kennst doch das alte chinesische Sprichwort: 'Man kann alt werden wie 'ne Kuh, das Gewissen gehört immer noch dazu'. Ich meine es nur gut mit dir - wegen der Rechnung.
E: Dann wärst du gut dran, wenn du gar nicht erst dieses lästige Gewissen hättest.
O: Das wäre langweilig. denn du hättest nichts, was du bereuen und vielleicht das nächste Mal anders und besser machen könntest.
E: Stimmt, aber oft gibt kein nächstes Mal, und ohne Gewissen wäre es zwar leichter, man könnte dabei aber auch ganz schön entgleisen und Schaden anrichten. Das käme jedoch auf deine inneren Maßstäbe an.
O: Siehst du, darum kannst du sicher sein, es ist da, jederzeit und überall. Wenn es erst einmal anfängt, dich zu piesacken, dann erinnerst und windest du dich - angenehm ist das wirklich nicht. Ich sage dann nachdrücklich zu mir selbst: 'Ich habe es wirklich verdient und bereue alles zutiefst'. Sofort zieht sich das Gewissen zurück und sagt noch: 'Na dann bis zum nächsten Mal'.
E: Das hast du nun davon. Du scheinst aber immer wieder Glück zu haben, daß dein Gewissen so etwas mitmacht. Ich nehme an, so ein nächstes Mal läßt bei dir nicht lange auf sich warten und dein Gewissen hat dann schon wieder was zu tun - wahrscheinlich ist es schon überarbeitet.
O: Wie ich vorhin schon sagte, sonst wäre es langweilig. Du hast aber recht, mein durch Erfahrung gestresstes Gewissen sollte besser längere Zeit ausruhen dürfen - natürlich nur, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt.
E: So gesehen mag ich es langweilig und für mich ist jetzt so eine Gelegenheit. Ich bestelle uns erst mal neues Bier und zahle natürlich auch die gesamte Rechnung. Sonst bekomme ich womöglich ein schlechtes Gewissen und die Ruh' ist hin.