WO KOMMT DAS LASTER HER ?

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heuberger
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WO KOMMT DAS LASTER HER ?

Beitrag von heuberger »

(= Auch hier sind Dialektpassagen wieder eingedeutscht.)


Unsere Großmutter, Frau Anna Schöpflin aus Fahrnau, erzählte uns immer wieder gerne Geschichten. Je älter sie wurde, desto schrulliger die Geschichten, in denen sie sich mit der Vergangenheit des heimatlichen Markgräfler Landes befasste. So berichtete sie auch von der Eroberung der Burg Rötteln bei Lörrach diese tragische und traurige Geschichte: "Uff ´ m Röttler Schloss, wo´s erobert worde´n isch, do isch der Graf uff sinim Ross vom höchschte Turm abeg´schprunga, und sini Frau isch mit m chliina Chind im Arm in da düüfa Brunna iinag´schprunga, damit sie sie numme nit verwütscha." (= Als das Röttler Schloss erobert wurde, da ist der Graf auf seinem Pferd vom Turm des Bergfrieds hinunter gesprungen, und seine Frau, ist mit dem kleinen Kind auf dem Arm in den tiefen Brunnen hineingesprungen, damit sie sie bloß nicht erwischten.) Da versuchten wir gemeinsam, die eifrige Erzählerin zu korrigieren: " Nai, Großmuadr, das verwachsleschd du, d´Erbgroßherzogi ( wir hatten die handelnde Gräfin eben mal im Rang befördert, und gleichzeitig an die 700 Jahre kurzerhand übersprungen, so einfach geht das! ) het zum in Brunna iine z´ schpringa extra ihri Markgräfler Tracht a´zoga und isch noch biim Schpringa mit de Fransle vo ihrer Mascha an dr Chappa am Brunnarand hänge blieba. " (= Nein, Großmutter, da verwechselst du was, die Erbgroßherzogin - wir hatten die handelnde Gräfin eben mal im Rang befördert, und gleichzeitig an die 700 Jahre kurzerhand übersprungen, so einfach geht das! ) - hat zum Sprung in den Brunnen extra ihre Markgräfler Tracht angezogen und blieb dann beim Springen mit den Fransen der Masche von ihrer Kappe am Brunnenrand hängen.) Aber nichts da! Damit entlockten wir ihr nur ein entrüstetes: " He nai Was schwätzet ihr do für a dummis Züüg? " (= Nichts da, was redet ihr da für dummes Zeug?) und beharrte auf ihrer Version des Geschehens.

Oder, wie ihr als junger Bauerntochter im heimatlichen Tumringen ein hartnäckiger Verehrer seine Aufwartung nächtens am Fenster ihres Schlafzimmers machte (dabei war man hier im südwestlichen Teil des Badenerlandes, wo die Sitte des Fensterlns angeblich ungebräuchlich und unbekannt war, dies gehörte doch mehr ins Bayrische!): Es sei bereits Abend gewesen, draußen war es dunkel, und sie lag in ihrem Zimmer im Bett. Da habe es plötzlich laut an ihr Fenster geklopft. Sie ging nachsehen. "Onno" ( eigentlich "Anna" ), mach´s Fänschdr uff!" (= Anna, mach dein Fenster auf!).
"Machsch, dass abachunscht, du Chaib, du verdammta!" (= Mach, dass du verschwindest, du Lustmolch, du elender!) So verteidigte sie beherzt ihre Tugend. Auch hier korrigierten wir sie wieder: " He nai, du hesch doch g´ruafa: Machsch, dass iinachunscht, du Chaib, du verdammta! " (= Aber nein, du hast doch gerufen: Mach, dass du hereinkommst, du Lustmolch, du elender!) Hier war sie dann jedoch nicht entrüstet, sondern lächelte nur in seliger Erinnerung vor sich hin. Wer weiß, warum!

Dies hier jedoch ist eine andere Geschichte, die sie, beinahe erbarmungslos immer wieder erzählte. Wir dachten damals alle, dass dieses ständige Wiederholen in direktem Zusammenhang mit ihrer fortschreitenden Vergreisung stünde. Aber jetzt bin ich mir da bei weitem nicht mehr so sicher. Viel mehr scheint sie, aus heutiger Sicht gesehen, die Absicht verfolgt zu haben, uns auf diese Art eine besondere Einsicht und Haltung näher zu bringen: Es muss so gegen Ende des Neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein. Da machte sich eine junge Frau aus Atzenbach im Wiesental an einem Sonntagmorgen auf, nach Zell, um dort am Bahnhof den Zug nach Fahrnau zu erreichen. Sie wollte ihre Eltern in der alten Heimat besuchen, und da passte der Sonntag sehr gut. In Fahrnau würde man gemeinsam den Gottesdienst besuchen, anschließend zu Mittag essen, und nach dem Kaffee führe die junge Frau zurück nach Zell und wäre dann am späten Nachmittag wieder daheim in Atzenbach. Allein, der Mensch denkt, und Gott lenkt! Etwas außer Atem in Zell am Bahnhof angekommen, sah unsere Sonntagsreisende gerade noch ihren Zug in einer Dampfwolke um die Flanke der „Hohen Möhr“ verschwinden. Also beschloss sie, etwa eine Dreiviertelstunde später, mit dem nächsten Zug zu fahren, und ihre Eltern gleich vor der Kirche in Fahrnau zu treffen. Als sie dann schließlich dort stand, hatte der Gottesdienst bereits begonnen. Der Pfarrer predigte über sein Lieblingsthema: Die Sünden und Laster seiner Schäflein, und dass er und die Kirche dieselben absolut missbilligten. Die Gemeinde war diese sonntäglichen Tiraden schon lange gewöhnt und hätte ziemlich genau vorhersagen können, welches Geschütz er als nächstes auffahren würde. Ein jeglicher Zuhörer hing seinen eigenen Gedanken nach, gähnte ab und zu verstohlen, langweilte sich maßlos und hoffte, dass der geistliche Zornesausbruch bald versiegen würde, weil sämtliche Sündenvarianten bereits abgespult und heruntergeleiert waren. Genau in diesem Augenblick betrat unsere Atzenbacherin die Kirche, um am Rest des Gottesdienstes noch teilzunehmen. Der Pfarrer wollte gerade zum Schluss kommen. Er lief bereits zur Hochform auf. Dazu holte er nochmals tief Luft, blies die Backen auf, bis sein Gesicht rot anlief, und rief mit lauter Stimme in das weite Kirchenschiff zur Gemeinde, die sich vor dem Zorn Gottes zu ducken schien:
„UND SO FRAGE IACH ÖICH OBERMOLS : WO KCHOMMT DAS LASCHTER HER ?“ (= Und so frage ich euch abermals: Wo kommt das Laster her?)
Da ertönte es laut zurück von der Kirchentüre: „VO ATZEBACH, IACH HAN DA ZUG VERBASST !“ (= Aus Atzenbach, ich habe den Zug verpasst!) Da ging ein Raunen durch die versammelte Kirchengemeinde, ob dieser Antwort. Selbst die Frommen unter den Anwesenden freuten sich, dass auch an diesem heiligen Ort gelegentlich ein Hauch von weltlicher Unterhaltung aufblitzte, und sie frohlockten, dass doch wenigstens kurzzeitig auf diese Art die sonntägliche Langeweile vertrieben wurde. Das versöhnte sie wieder etwas. Ganz Verwegene malten sich im Geiste bereits die Heftigkeit und die Örtlichkeiten der Atzenbacher Laster aus und verglichen sie mit ihren eigenen bescheidenen Abenteuern. Und so konnte man da und dort leise ein unterdrücktes Kichern hören. Der Pfarrer aber machte große Augen und verschluckte sich beinahe. Taten sich doch durch diese Antwort geradezu theologische Abgründe auf, deren Vorhandensein selbst er bisher nicht für möglich gehalten hatte.

Als die Besucher die Kirche verlassen hatten, standen sie noch eine Weile herum und unterhielten sich über die Predigt. Das taten sie zwar jeden Sonntag, aber heute hatte es doch einen Anlass gegeben, neue Wege, oder zumindest Sichtweisen wenigstens ins Auge zu fassen. So lachten einige der Anwesenden vergnügt und freundlich und zwinkerten der Besucherin aufmunternd zum Abschied zu. Andere wiederum brachten wenigstens ein verstecktes und nur halb unterdrücktes Schmunzeln hervor. Während die Fundamentalisten unbarmherzig den Stab brachen und weiterhin alle verurteilten, die auch nur im Traum daran dächten, im Zusammenhang mit so ernsten Dingen, wie etwa Religion, Scherz zu treiben. Solchen Leuten ist nicht zu helfen, auch die strahlende Sonne verliert all ihren Glanz in deren Gegenwart, und sogar im Hochsommer verspürt man ein leichtes Frösteln in ihrer Nähe. Selbst der Pfarrer mied möglichst den nahen Umgang mit ihnen. Die Eltern grinsten zwar innerlich, wenn sie an den Auftritt ihrer Tochter dachten, aber sie machten ihr doch einige Vorhaltungen: „Du hättsch jo nit grad so öbbis in der Chilla saga müassa, und au no so lut!“ (= Du hättest sowas ja nicht gerade in der Kirche sagen müssen, und dann auch noch so laut!)
Aber da kam prompt die Antwort der Tochter: „Ja, worum frogt mi der Pfarrer au so a dummis Züg, der Dubel? Hätt er doch si Muul g´halta, noch hätt iach miins au nit uffmacha miassa!“ (= Ja, warum fragt mich der Pfarrer auch solch einen Blödsinn, der Trottel? Hätte er seinen Mund gehalten, dann hätte ich meinen auch nicht auftun müssen!) Das gibt doch Anlass, zu hoffen, dass die junge Generation die Dinge nicht mehr gar so todernst nimmt, wie die Alten vorher.
Die Jungen machen dafür dann wieder eigene Fehler. Aber das ist dann auch deren Problem, und es ist auch eine andere Geschichte. Aus sicherer Quelle erfuhr ich übrigens, dass es sich hier wohl um eine Wandergeschichte handelt, dergestalt, dass sie, je nach Bedarf, mit vertauschten Ortschaften, oder auch Konfessionen, oder sonstigen Gruppenzugehörigkeiten, immer wieder gerne erzählt wird. Das hieße hier dann, unsere liebe Frau lebte womöglich in Fahrnau, und wollte ihre Verwandten in Atzenbach besuchen. Demzufolge hätte sie dann auch auf die Frage des Pfarrers, von wo denn das Laster herkäme, geantwortet: „Vo Fahrnau!“ An dieser Stelle möchte ich die Erörterung über die geographische Herkunft unserer sonntäglichen Kirchgängerin beenden, um nicht Gefahr zu laufen, am Ende gar einer feindseligen Einstellung gegenüber der einheimischen Bevölkerung geziehen zu werden, oder ähnliche Unterstellungen über mich ergehen lassen zu müssen. Immerhin könnte ja der Eindruck entstehen, ich hätte die Leute aus dem Mittleren Wiesental der besonderen Lasterhaftigkeit bezichtigt. Dabei nehm ich´s auf mein Gewissen, dass deren Laster wohl genau so uninteressant und fade sind, wie die unsrigen.

Vielleicht wollte unsere Großmutter uns damit aber auch nur dies mitgeben: “Nehmt dauernde Zurechtweisungen, bigotte Strafpredigten und Schuldzuweisungen bloß nicht so bierernst - und kämen sie selbst von höchster Stelle. Tut sie lieber dahin, wo sie zumeist auch hingehören: INS BUCH DER WITZE! Anlass dazu gibt´s genug!
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