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DAS HÄSCHEN AUS DER GRUBE

Verfasst: Mittwoch 23. September 2015, 13:55
von heuberger
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Bei der Durchsicht der Geschichte von der strengen Tante und ihrer hilflosen Nichte („BEDENKZEIT“) fällt mir in der Nachbesinnung - auf rein assoziativem Weg, selbstverständlich - noch eine hübsche Geschichte ein, die ich mal im Radio gehört habe. Allerdings, wie ich den Laden inzwischen so kenne, bestätigt sie ja doch nur alte Ansichten, wenn auch mit einer Wendung ins Unerwartete. Hier geht es auch um ein "Unverhofftes Wiedersehen", wenn auch nicht ganz im Sinne Hebels (Johann Peter).
Nehmt´s einfach als das, was es ist: Eine kuriose Geschichte einer Befreiung aus vorgegebenen Denkmustern.

AUCH EIN UNVERGHOFFTES WIEDERSEHEN
Zwei alte Freunde, beide hoch in den Achtzigern, sitzen auf dem Bänkle, etwas abseits vom Dorf, am Rande der sogenannten Hasenwiese. Die Hände auf ihren Krückstock gestützt, dösen sie so vor sich hin und blinzeln in die warme Nachmittagssonne. Sie hätten kaum gegensätzlicher sein können, was ihren Charakter anbetrifft. Der eine war immer bedächtig und abwägend, der andere dagegen mehr ärgerlich und alles bemäkelnd, ein richtiger "Bruddler". Früher war er gar aufbrausend gewesen. Aber das war lange her. Und so trafen sie sich jeden Tag an ihrem Lieblingsplatz. Da sagt der Eine plötzlich ohne Vorwarnung: "Glaubschd du, dass es noch´m Dod no weitergoht, oder isch älles rum?" (= Glaubst Du, dass es nach dem Tod noch weitergeht, oder ist alles vorbei?)
"Hä," meint da der Andere, und fährt hoch aus seiner Träumerei, "wa hosch g´sait?" (= Was hast Du gesagt?) "I han de g´frogt, ob da moinschd, ´s ging no weiter noch´m Schderba, oder isch älls rum?" ( = Ich hab Dich gefragt, ob Du meinst, es ginge noch weiter nach dem Sterben, oder ist alles vorbei?)
" A wa, do isch´s doch aus, wa frogscht au so bled?" (= Ach was, da ist es doch aus, was fragst Du auch so blöde?)
"Ha, i mecht´s halt scho wissa, ond d´Kirch moint jo au …" (= Na, ich möchte es halt schon wissen, und die Kirche meint ja auch … )

"Du, lass me bloß mit dera Kirch in Ruah, dia könnet viel behaupta mit zwoidaused Johr uff´m Buckel. I GLAUB ´S IT!" (= Du, lass mich bloß mit dieser Kirche in Ruhe, die können viel behaupten mit zweitausend Jahren auf dem Buckel. ICH GLAUB ´S NICHT!)
"Ha woischt, i han jo bloß g´moint." (= Na ja, weißt du, ich habe ja nur gemeint.)
"Noch b´halt´s au für di!" (= Dann behalt´s auch für Dich!)
So viel mal zunächst über alte Freundschaften und christliche Hoffnungen.

Aber unser Zweifler gab nicht auf. Immer wieder nervte er seinen Freund, den Bruddler, mit diesem Anliegen, bis beide sich das Versprechen gaben, dass derjenige, welcher zuerst stürbe, dem anderen ein Zeichen für sein Überleben zukommen lasse, falls ihm dies dann - irgendwie - noch - möglich wäre.
Und so lebten sie weiter, mehr oder weniger beschaulich, stritten täglich ein bisschen miteinander und verwünschten sich gegenseitig im stillen, wie es alte Knacker nun halt mal so an sich haben. Die Ähnlichkeit zum alteingespielten Verhalten betagter Ehepaare ist immer wieder frappierend!
Bis eines Tages der Bruddler abberufen wurde.
Sein Freund kam hernach nicht mehr so oft zu ihrem Bänkle wie früher. Zwar begann er, seinen alten Kumpel und dessen ewige Nörgelei jetzt doch ein wenig zu vermissen. Auch dachte er gelegentlich an ihre Übereinkunft. Aber da hatte sich nie jemand gemeldet. Also tröpfelte auch diese Erwartung allmählich aus, und er wusste, dass es für ihn auch bald Zeit würde, sich auf den Weg zu machen.
An einem schönen Nachmittag im Herbst ging er noch einmal zum Bänkle, um Abschied zu nehmen, denn er fühlte, dass er den nächsten Frühling nicht mehr erleben würde.
Die Sonne schien und verbreitete eine milde Wärme, die Morgennebel hatten sich aufgelöst, und im leichten Dunst zeigte sich die Welt ihm noch einmal in all ihrer Farbigkeit, als wollte sie darauf hinweisen, wie schön sie doch war, und was die Menschen daraus machten. Auf der Wiese tollten nur ein paar Hasen munter herum, boxten sich gegenseitig und rammelten froh. Da ward ihm das Herz schwer, seine Gedanken wurden trübe, und er bekam sogar ein wenig feuchte Augen.
Und wie er so zwischen Weltbetrachtung und Resignation und Selbstmitleid hin und her schwankte, vermeinte er plötzlich, eine feine, innere Stimme zu hören: "Hallöle - i bi´s - hörscht du mi?" (= Hallöchen – ich bin´s – hörst Du mich?) Erschrocken fuhr er hoch und blickte um sich. Aber außer ein paar herumflitzenden Hasen auf der Wiese war weit und breit kein Lebewesen zu sehen. Schon wollte er wieder in seine träge und tranige Passivität zurückfallen, da ertönte es wieder, diesmal drängender:
"He du, i bi´s, etzat hör mir doch amol zua, du alter Depp!" (= He Du, ich bin´s, jetzt hör mir doch einmal zu, Du alter Depp!)
Da bekam er einen freudigen Schreck und fragte unsicher: "Moinscht du mi?" (= Meinst Du mich?)
"Ha jo, oder siehscht du suscht no äbber do?" (= Aber ja, oder siehst Du hier sonst noch jemanden?)
"Noi, aber etz sag mir bloß, wer bischt du denn?" (= Nein, aber jetzt sag mir bloß, wer bist Du denn?)
"Ha no, du bischt jo no viel bleder als wia-n-i denkt hau! (= Je nein, Du bist ja noch viel doofer, als ich gedacht habe!) Etzat send mir johrelang z´sema uff´m Bänkle g´hocket ond i han dir sogar vrschprecha messa, dass e mi meld, sobald e hiebe bi, ond etzat kennscht du mi nemme!" (= Jetzt sind wir jahrelang zusammen auf dem Bänkchen gesessen, und ich musste Dir gar versprechen, dass ich mich melde, sobald ich hinüber bin, und jetzt kennst Du mich nicht mehr!)
Da fröstelte der Angesprochene ein wenig und bekam eine leichte Gänsehaut. "Aber du hosch di jo nia g´meldet.", warf er ein. (= Aber Du hast Dich doch nie gemeldet.)
"Also du bisch doch an Schofseckel, wia ma´n selta sieht, jedesmol, wenn du uff´m Bänkle g´hocket bischt, noch han i di g´ruafa, aber du hosch oifach nia g´loset!" (= Also, Du bist doch ein elend dummer Kerl, wie man ihn selten sieht, jedesmal, wenn Du auf dem Bänkchen gesessen bist, da hab ich Dich gerufen, aber Du hast einfach nie hingehört!)

"Ja, sag bloß, wia goht´s dir nocha so dia ganz´ Zeit? Wa tuascht so?" (= Ja, sag bloß, wie geht es Dir denn so die ganze Zeit? Was machst Du?)
"A bissele oifach, ond langweilig isch´s do scho: Am Morga uffschtanda ond friahschticka, nocha viel Schport ond a bissele Sex, bis zum Mittagessa, noch wieder Schport und a bissele Sex da Nochmittag, ond nocha Obedessa ond nomol a bissele Sex. Also, wenn da mi frogscht, oifach a bissele a´schdrengend ond fad!" (= Ein bisschen einfach, und langweilig ist es hier schon: Am Morgen aufstehen und frühstücken, dann viel Sport und ein bisschen Sex, bis zum Mittagessen, dann wieder Sport und ein bisschen Sex am Nachmittag, und dann Abendessen und nochmals ein bisschen Sex. Also, wenn Du mich fragst, einfach ein bisschen anstrengend und langweilig!) Da blieb dem Anderen der Mund offen stehen ob dieser Neuigkeiten. "Also, des hätt i etzat it denkt, dass´s noch´m Tod so weitergoht", meinte er. (= Also, das hätt´ ich jetzt nicht gedacht, dass es nach dem Tod so weitergeht)
"I g´wiss au it, i han ällaweil g´moint, do sei´s nocha aus ond rum - aber Pfeifadeckel, etz goht´s erscht reacht los! Da hosch oifach koi Ruah, äll Däg ´s gleich´ G´schiss!" (= Ich sicherlich auch nicht, ich habe immer gemeint, da sei es nachher aus und vorbei – aber, dumm gelaufen- jetzt geht´s erst so richtig los! Da hast Du einfach keine Ruhe, jeden Tag der gleiche Müll!)
"Also, dass´s im Himmel Sex geit, des hätt e doch nia denkt." (= Also, dass es im Himmel Sex gibt, das hätte ich doch nie gedacht.)
"Wia kommscht du uff Himmel? I bi doch it im Himmel!" erklang es da etwas gereizt. (= Wie kommst Du auf Himmel? Ich bin doch nicht im Himmel!)
"Ja, bischt du nocha in dr Höll?" (= Ja, bist Du dann in der Hölle?)
"A wa, Höll, do kommschd du ´na, wenn da weiter so saudumm frogscht." (= Ach was, Hölle, da kommst Du hin, wenn Du weiterhin so saudumm fragst.) Die Stimme klang jetzt ausgesprochen ärgerlich. Kein Zweifel, es war der verstorbene Freund, denn so "goschen" (= maulen) konnte sonst keiner! "Im Paradies?"
"Im Paradies, im Paradies" äffte ihn die Stimme nach, "a so a saudumms G´schwätz, du kapierscht au ums Verrecka nix, schwätzscht bloß dia ganz´ Zeit so ´n Soich". (= Also, ein derart saudummes Geschwätz, du begreifst auch „ums Verrecken“ nichts, redest nur die ganze Zeit solch einen Müll.)
Jetzt tobte er bereits.
"Ja, wo bischt du denn noch, verdammt no a mol?" (= Ja, wo bist Du denn dann, verdammt nochmal?)
"Ha, uff dr Hasawies, direkt vor dir, du Granataseckel!" (= Ha, auf der Hasenwiese, direkt vot Dir, Du XXX!)
Nicht weit entfernt vom Bänkle hatte sich ein Hase aufgerichtet, machte Männchen und äugte herüber.
Diese Mitteilung kam über unseren Freund wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Als er diese Neuigkeit begriff, fiel er glatt von der Bank herunter.
DAS WAR EINFACH ZU VIEL !
Mit allem hatte er gerechnet, aber doch niemals mit Seelenwanderung, und das auch noch in dermaßen vulgär-brutaler Ausformung!
"Ja, sag bloß, also des hätt i nia g´glaubt - ond do hätt i au im Traum it dra´denkt." (= Ja, sag bloß, also das hätte ich nie geglaubt - und ich hätte da auch im Traum nicht daran gedacht.)
"Ha, Gott sei Dank, etzat hot´s endlich g´schellat bei dir," (= Na, Gott sei Dank hat es endlich bei Dir geklingelt,) meinte die Stimme und fuhr fort: "aber g´schnacklet hot´s scheint´s ällaweil no it. Wart no, bis des au no konnt. Do werscht de aber noch wundera, brauchscht aber it verschrecka. - Ond etz mach´s guat. - I muaß ge < schaffa > . - Bis bald." (= Aber der Groschen scheint immer noch nicht gefallen zu sein,. Wart nur, bis das auch nocht kommt. Da wirst Du Dich aber noch wundern, brauchst aber nicht zu erschrecken. - Und jetzt mach´s gut. - Ich muss zum < Arbeiten > . - Bis bald.)
Der Hase ließ sich wieder auf alle Viere herunter und jagte der nächsten Häsin hinterher.
Da richtete sich unser alter Freund wieder auf, schüttelte sich ein wenig und setzte sich wieder aufs Bänkle, hatte er doch gerade so viel erlebt, dass er das erst mal verdauen musste.

er musste die Wahnsinns-Erfahrung machen, dass selbst ein beinahe biblisch hohes Alter - zum Glück - nicht immer vor dem totalen Zusammenbruch uralter eingefahrener Denkweisen zu schützen vermochte - und dass ihm dies gleichzeitig viele neue Möglichkeiten aufzeigte.

Diese Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag, dass es ihn schüttelte. Und es wurde ihm klar, dass ein Wunder geschehen war, und dass er den Schleier der Verblendung vor seinem Geiste sogar selber weggezogen hatte. Mag der nun durch Erziehung, Selbsteinschränkung, Bequemlichkeit, Ängstlichkeit oder gar Einschüchterung und Drohung entstanden sein und ihn derart vollständig eingehüllt haben, dass er sich völlig eingemauert und abgedichtet hatte, nur um ja keine andere Denkart an sich heranzulassen. Er war buchstäblich hermetisch dicht gewesen. Und ihm wurde jetzt endlich, im fortgeschrittenen Alter, die Gnade und der Mut zuteil, die alten und die modernen Perücken und Zöpfe einfach fortzuwerfen, die sein Leben lang ein selbständiges Denken eingeengt und gar verhindert hatten. Er hatte die Mauer um sich herum zertrümmert, und die Enge seines bisherigen Horizonts eingerissen. Sein ganzer, beschränkter „Himmel“ war eingestürzt. Und wie auf Flammarions Holzschnitt konnte er nun seinen klaren und unverstellten Blick auf Welt und Sein richten.

https://tl.wikipedia.org/wiki/Talaksan:Flammarion.jpg


Mit einem erleichterten "Uff" tat er kund, was für eine gewaltige Bürde er abgeworfen hatte. Und bei all dem freudigen Schreck wurde ihm nun leicht ums Herz. Die trübe Stimmung war wie weggeblasen, und er wäre am liebsten auf einem Bein, juchzend wie ein kleines Kind, nach Hause gehüpft. Nur sein Krückstock hinderte ihn daran. So lenkte er denn seine Schritte würdevoll, wie es sich für sein Alter geziemte, heimwärts. Dabei kicherte er öfters in unkontrollierten Heiterkeitsausbrüchen vor sich hin und schüttelte den Kopf. Hätte ihn jemand so gesehen, er hätte ihn unweigerlich für plötzlich kindisch geworden geglaubt.
Er aber freute sich einfach nur. Hatte er doch erlebt und begriffen, nur wer für alles offen ist, der kann nicht ganz dicht sein! Das war sein ganz persönlicher "Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant). Er brauchte keine fremde Anleitung mehr, nie mehr. Angst und Furcht nahmen ab, wurden geringer, und dafür wuchs seine Neugier, und er beschloss, den Rest seiner Tage in mehr oder weniger froher Unbekümmertheit und mit Gottvertrauen zu verbringen, getreu der Empfehlung eines anderen großen deutschen Philosophen - mit bayrischem Zungenschlag: "Schaug´n mer mal!"

Und uns bleibt die alte Erkenntnis: Gottes Wege sind unergründlich, verworren und krumm, aber sie führen immer zum Ziel.