Die Hütte am See

Antworten
Benutzeravatar
Helga
Administrator
Administrator
Beiträge: 192
Registriert: Freitag 26. Februar 2010, 16:26
Wohnort: NRW
Kontaktdaten:

Die Hütte am See

Beitrag von Helga »

Die Hütte am See


Bild


Margit und Tom parken ihren Golf auf dem großen Parkplatz. Durch die Sträucher sehen sie bereits den See, dessen Wasseroberfläche in der Sonne glitzert.

Wie jedes Wochenende im Sommer – wenn das Wetter es zulässt – kommen sie hierher. Beide sind leidenschaftliche Schwimmer.

Nachdem sie ihre Badesachen aus dem Kofferraum genommen haben, schlagen sie den Weg zu einer einsamen Bucht ein, die sie schon beinahe ihr eigen nennen, da sich kaum ein Besucher dort aufhält. Außer einer kleinen verlassenen Bretterbude, die fast zusammenfällt, scheint die Idylle beinahe unberührt.

Tom hatte dieses Fleckchen durch einen Zufall im vergangenen Sommer entdeckt. Margit war sogleich begeistert gewesen. Hier konnten sie wunderbar im See schwimmen, in der Sonne liegen und träumen, ohne durch Kofferradios oder laute Unterhaltung anderer Badegäste gestört zu werden.

Wenige Minuten später erreichen sie ihr Paradies.

Tom lässt alles auf den Boden fallen und streckt die Arme aus.

„Ist das nicht ein herrliches Fleckchen Erde? Dazu der azurblaue Himmel. Schau mal, wie er sich im See spiegelt. Ich kann es kaum abwarten, ins kühle Nass zu springen.“

Margit lächelt. Sorgfältig breitet sie eine große Decke auf dem Boden aus.

„Hoffentlich hält sich das Wetter. Sie haben für heute Nachmittag ein Gewitter vorher gesagt. Aber noch sieht es ja nicht nach Eintrübung aus.“

„Ach was, die vertun sich doch ewig. Auf diese Prognosen kann ich verzichten, Komm, lass uns zuerst einmal eine Runde schwimmen.“

Tom wirft seine Jeans und sein T-Shirt auf die Decke und rennt los. Das Wasser des Sees spritzt zu allen Seiten weg, als er sich in die Fluten stürzt.

Er ist bereits einige Meter in die Mitte des Sees geschwommen, als Margit zunächst einmal vorsichtig die Wassertemperatur testet.

Sie wirft einen kurzen Blick zurück zum Ufer, mehr zufällig, wie, um zu kontrollieren, ob noch alles an seinem Platz sei.

„Ich spinne doch“, murmelt sie vor sich hin.

Sie sieht die ausgelegte Decke mit ihren Kleidungsstücken darauf und die braune kleine Hütte, deren Dach von der Sonne beschienen wird. Alles ist friedlich.

„Suchst du mich? Ich bin doch hier“, neckt Tom sie.

„Quatsch!“ Margit schüttelt lachend den Kopf. „Ich wollte mich eben nur noch einmal vergewissern. ...“

„Ob uns auch keiner bestiehlt? Du weißt doch, hier kommt niemand hin. Wir haben es bisher auf jeden Fall noch nicht erlebt.“

„Du hast ja Recht. Es war nur so ein Gefühl.

„Ach, deine Gefühle – vergiss es. Wollen wir bis zur nächsten Bucht schwimmen, da, wo wir vorige Woche die kleine Entenfamilie im Schilf entdeckt haben?“

„Ja, ja klar. Wer ist zuerst da?“

„Ich natürlich“, protzt Tom und spritzt Margit eine Ladung Wasser ins Gesicht.

„Du Taugenichts, wart’ s nur ab. Ich kriege dich schon.“

Beinahe gleichzeitig erreichen sie ihr Ziel.

Heute halten sich jedoch keine Enten hier auf.

„Schade, heute scheinen die Tiere sich einen anderen Platz zum Verweilen ausgesucht zu haben“. Margit streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht und schaut zum Himmel, der sich ein wenig bewölkt hat. „Schau mal, Tom, die Wolken da oben, sieht nicht so gut aus. Ob es doch ein Gewitter gibt?“

„Och, die paar Wölkchen sind schon nicht so schlimm. Verziehen sich vielleicht auch wieder so schnell, wie sie gekommen sind. Eben war der Himmel doch noch einheitlich blau gewesen.“

Tom sollte sich gewaltig irren.

In kürzester Zeit verdunkelt sich die Sonne immer mehr und verschwindet endlich ganz hinter einer grauen Wolkenmasse. Vereinzelt fallen bereits die ersten Regentropfen.

„Was machen wir denn jetzt?“ Margit sieht Tom fragend an. „Am besten klettern wir ans Ufer und laufen am See entlang zurück.“

„Der Regen macht nichts. Wir schwimmen, Margit. Der Weg entlang am Ufer ist länger und nass sind wir ja sowieso schon.“

Ein fernes leises Grollen lässt beide aufhorchen.

„Hm, vielleicht sollten wir dennoch deinem Vorschlag folgen und zu Fuß gehen. Bei Gewitter ist es besser, das Wasser zu meiden.“

Margit nickt stumm.

In wenigen Schwimmzügen erreichen sie das Ufer.

„Abgekühlt ist es auch schon. Lass uns schnell laufen, Tom. Mir ist kalt, und das Gewitter scheint schnell näher zu kommen, die Wolken verdichten sich immer mehr.“

Zehn Minuten später hat der Regen bereits zugenommen, und der Donner ist deutlich zu hören. Frierend erreichen Margit und Tom ihre Bucht.

Sie stürzen sich auf ihre Sachen, raffen sie zusammen, um sich in der kleinen Hütte vor dem Unwetter zu schützen.

Ungläubig starrt Margit auf den Boden.

„Unsere Decke ist weg, sieh mal, Tom.“

„Macht nichts. Der Wind wird sie ins Gebüsch geweht haben. Komm, pack dir deine Sachen und lauf schnell zur Hütte. Dort haben wir wenigstens vor dem Regen Schutz.“

„Ist sie überhaupt offen?“

„Vorige Woche war sie offen.“

„Was? Woher weißt du das denn?“

„Ich habe nachgesehen, als du schliefst. Wollte einfach wissen, wie es drinnen aussieht. Durch das kleine Fenster habe ich nicht viel sehen können, deshalb habe ich die Türe geöffnet. Es sind ein paar Bretter drinnen und ein alter Stuhl. Den hat wohl irgendjemand nicht mehr brauchen können und einfach hier abgestellt.“

„Sie ist geschlossen, Tom.“ Margit rüttelt an der Türe.

„Ach was, sie wird klemmen, lass es mich einmal versuchen.“ Tom schiebt Margit beiseite.

Mit einem kräftigen Ruck versucht er, die Türe zu öffnen. Aber auch er schafft es nicht. Er schlägt kräftig mit der Handfläche gegen das Holz. Doch nichts rührt sich.

„Verflixt, vorige Woche war sie offen. Wer soll sie denn abschließen? Da ist ja noch nicht einmal ein Schloss drauf, siehst du?“

„Wir laufen schnell zum Auto, zum Parkplatz ist es ja nicht mehr so weit“, schlägt Margit vor, dann ...“

Noch ehe sie den Satz beendet hat, öffnet sich plötzlich die Türe.

„Siehst du? Ich wusste es ja, sie ist unverschlossen, denn ...“

Mitten im Satz bleibt Tom der Mund vor Staunen offen stehen.

Vor ihm steht ein kleiner gebückter Mann mit einem schlohweißen Bart. Seine linke Hand umklammert den Griff eines Stockes, auf den er sich schwerfällig stützt. Seinen mageren Körper umhüllt eine Wolldecke.

Sprachlos starren Margit und Tom den Fremden an.

„Was machen Sie denn hier?“ Tom schaut den Alten forschend an. „Sind Sie auf Ihrem Spaziergang auch vom Gewitter überrascht worden?“

Der alte Mann blickt zu ihm auf und schaut ihn mit wachen Augen an.

„Ihr solltet herein kommen, sonst erkältet ihr euch noch in eurer Badekleidung. Leider kann ich euch keine trockenen Kleider oder Handtücher anbieten. Aber seit dennoch willkommen in meinem bescheidenen Heim.“

Tom runzelt die Stirn.

„Ihr Heim? Sie wollen mir doch wohl nicht sagen, sie würden hier leben?“

Im Innern der Hütte erhellt ein kleiner Lichtschein, der durch das Fenster fällt, die spärliche Einrichtung. Tom erkennt die Bretter, die er vor einer Woche durch das Fenster erspäht hatte.

Er hatte vermutet, es seien irgendwelche Bretter, die für nichts mehr zu gebrauchen seien und hier von irgendjemandem abgelegt worden waren. Nun erkennt er eine primitive Schlafstätte direkt unter dem Fenster, einen wackeligen Tisch und den Stuhl, den er ebenfalls schon kannte.

„Die Decke ....“, Margit zeigt auf ihre bunte Wolldecke, die der Mann eng an seinen Körper zieht, „sie ist von ...“

Tom stößt sie leicht von der Seite an und schüttelt stumm den Kopf.

„Ich habe diese schöne warme Decke draußen gefunden – hier - wenige Meter von meiner Hütte entfernt“, beginnt der Alte zu sprechen. „Ich friere immer so. Nein, leben tue ich hier nicht. Aber im Sommer komme ich öfters hierher, weil ich den Blick auf den See genieße und die schöne Natur um mich herum. Oft ist es dann schon so spät geworden, dass ich in der Hütte übernachtet habe. So habe ich es auch in der letzten Nacht wieder gemacht. Als es nun zu regnen begann, war mir gleich so kalt. Da habe ich die weiche Decke gesehen.“

Während er die letzten Worte spricht, wird die Türe mit einem heftigen Ruck aufgerissen.

Margit entfährt ein entsetzter Schrei.

Vor ihnen stehen zwei Polizisten, die mit scharfer Stimme Hände hoch sagen.

„Haben wir dich endlich gefunden!" antwortet einer von ihnen und wendet sich dem Alten zu.

"Dachte ich es mir doch, dich hier zu finden! War unsere Vermutung also richtig! Jetzt ist es aber vorbei mit deinen Spielchen! Du führst uns nicht mehr an der Nase herum!“ Der zweite Polizist macht einen Schritt auf ihn zu.

„Aber er sucht doch hier nur Schutz vor dem Regen“, entfährt es Tom. „Was wollen Sie von ihm? Er hat Ihnen doch nichts getan.“

„Haben Sie eine Ahnung! Sie beide“, einer der Polizisten deutet mit dem Kinn auf Tom und Margit, „suchen hier vor dem Gewitter Schutz, aber er? Alles Maskerade! Einen Banküberfall und einen Mord an einem Angestellten hat er auf dem Gewissen! Komm her, mein Freund! Weg jetzt mit dem Stock! Und dem Bart! Und der Perücke! Und gerade stehen!“

Mit einem raschen Handgriff zieht er dem alten Mann die Maske vom Gesicht.

Margit glaubt zu träumen. Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie auf die Person, die Minuten vorher noch so zerbrechlich und mitleiderregend vor ihnen gestanden hatte.

Aus dem gebrechlichen gebeugten Alten wird ein großer junger Mann mit schlanker Figur und kurzgeschnittenen Haaren. Seine eben noch so gütig drein blickenden blauen Augen sehen nun voller Hass um sich. Er sieht keine Fluchtmöglichkeit und presst die Lippen zusammen.

„Ich war es nicht“, zischt er die Polizisten an. „Ich werde es euch beweisen.“

Margit, die sowieso schon vor Kälte zittert, laufen kalte Schauer den Rücken herunter. Unkontrolliert klappern ihre Zähne aufeinander.

Geistesgegenwärtig greift Tom nach der zu Boden gefallenen Wolldecke und legt sie Margit schützend um die Schultern. Auch ihn packt das kalte Grauen.

„Das ist ja wie in einem Kriminalfilm“, flüstert er Margit zu. „Ich glaube es nicht!“
"Eher wie in einem Horrorfilm", entgegnet ihm Margit.

„So, ab mit dir!“

Die beiden Polizisten nehmen den fremden Mann in ihre Mitte und verlassen mit ihm die Hütte. Die wackelige Holztüre fällt hinter ihnen zu.

Margit und Tom steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Hier – wo sie sich immer so wohl gefühlt hatten, hatte sich ein Mörder versteckt gehalten. Sie können noch gar nicht fassen, was sich da gerade vor ihren Augen abgespielt hat. -

„Wer weiß, was er mit uns gemacht hätte, wenn die Polizei nicht gekommen wäre!“

Margit schlägt die Hände vors Gesicht.

Tom nickt.

„Mit Sicherheit hatte er Bedenken, wir könnten ihn verraten, obwohl wir ja noch nicht bemerkt hatten, dass er sich verkleidet hatte. Hier in dem Dämmerlicht fiel das ja gar nicht so auf. Trotzdem – so ganz wohl war ihm in seiner Haut sicher nicht, als er uns vor der Türe stehen sah.“

Margit schlottert am ganzen Körper vor Angst. Sie hat nur noch einen einzigen Wunsch:

*So schnell wie möglich weg von hier!“



© Helga Salfer
Auch aus Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.
Antworten