Wissen ist Macht, nicht der Augenschein.

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Folptetius
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Wissen ist Macht, nicht der Augenschein.

Beitrag von Folptetius »

Garantol, ein Pulver zum konservieren. Eine fatale Begebenheit aus dem Unterrichtsfach Chemie,
welches zu Anfang grosse Erwartungen in sich barg.
Nachdem ich die Schule, in der die unteren vier Klassen etabliert waren, gewechselt hatte und in die
sogenannte Mittelschule übergetreten war, erwartete mich ein neues Unterrichtsfach, die Chemie.
Der erste Unterrichtstag und die darauffolgenden waren noch recht weit von meinen Vorstellungen
entfernt. Es waren Vorstellungen über Versuche und Experimente mit Feuer und Wasser.
Der Unterrichtsraum unterschied sich in seinem Erscheinungsbild gravierend von den übrigen
Klassenzimmern. Hier vermisste man den Geruch, der mit Ölspänen täglich vom Hausmeister gereinigten
Fussböden. Der grosse Experimentiertisch war das hervorragende Merkmal, was sogleich an ein
Laboratorium erinnerte. Ebenso war es der Eigengeruch dieses Raumes, der ein besonderes Flair hatte,
und der sich an manchen Tagen in einer völlig anderen Nuance darbot.
Die Plätze auf den Bänken waren verteilt, wobei jeder beim ersten Betreten des Raumes darauf bedacht
war, in den vorderen Reihen einen Platz zu ergattern, denn man wollte ja alles genauestens mitbekommen.
Anstatt aufregender Experimente musste man sich zunächst aber noch mit den kleinsten Teilchen der
Stoffe, mit Molekülen und Atomen befassen.
Dennoch freute ich mich immer auf den Tag, wenn dieser Unterricht auf dem Stundenplan stand.
An solch einem Tag herrschte wieder einmal der übliche Lärmpegel im Klassenzimmer, bis unsere
Lehrerin, Fräulein Meier, den Raum betrat. Sofort ebbte der Lärm ab, bis auch das letzte Flüstern zum
Nachbarn verstummt war.
Fräulein Meier vollzog ihr übliches Repertoire, indem sie wie beiläufig, ihre Hand seitlich über ihre
Kleidung gleiten liess, als wolle sie sich vergewissern, dass ihr Faltenrock einen korrekten Sitz hatte,
bevor sie hinter dem Arbeitstisch Posten bezog.
An diesem Tag durften wir uns zum ersten Mal vor dem grossen Experimentiertisch aufstellen, auf dem
schon einige kleine Gerätschaften bereitgestellt waren. Wir stürzten mit viel Getöse zu diesem Tisch, denn
es galt wieder, in der ersten Reihe sind die besten Plätze.
Zunächst wurden zur Erinnerung einige Formeln an die Tafel geschrieben, um Gelerntes wieder erinnerlich zu
machen. Der inzwischen betriebsbereit gemachte Bunsenbrenner zeigte mit kaum hörbarem Rauschen
eine bläuliche Flamme. Demnach zu urteilen, würde es an diesem Tag ein richtiges Experiment geben, so
waren meine Gedanken. Es wurde etwas vorbereitet und Vorgänge nahmen ihren Ablauf.
Es dampfte und zischte in der kleinen flachen Glasschale, die mit ihrem Inhalt über der Flamme erhitzt wurde.
Danach wurde die Glasschale auf dem Tisch abgestellt, denn jetzt befand sich offenbar das Endergebnis des
Versuches darin. Fräulein Meier blickte in die Runde, deutete mit der Hand auf die Glasschale und stellte
die Frage,...und was haben wir jetzt für einen Stoff gewonnen? Beiläufig zeigte ihre Hand auf die Formel
an der Tafel. Jeder, der diese Formel verstanden hatte, oder auswendig im Kopf hatte, sollte jetzt das
Ergebnis kennen. Ich hatte diese Formel nicht verstanden und wusste nicht, was sich hinter den Buchstaben
und Zeichen, ein nach rechts zeigender Pfeil, sowie Klammer auf, Klammer zu, verbarg.
Aber dennoch war ich mir sicher, dass ich allein schon vom Augenschein diesen Stoff in der kleinen Glasschale
benennen konnte. Das gleiche schwach gelbliche Pulver hatte meine Mutter im Haushalt zur Verwendung.
Sie benutzte es, in Wasser aufgelöst, um frische Hühnereier in einem Steintopf, für längere Zeit haltbar zu
machen, zu konservieren.
Fast alle Arme flogen mit ausgestrecktem Finger in die Höhe, um damit zu signalisieren, man kennt die
Antwort. Auch ich meldete mich in der üblichen Art, um mein vermeintliches Wissen anzuzeigen.
Da ich sonst üblicherweise eher nicht in Erscheinung trat, zeigte Fräulein Meier mit der Hand auf mich, ich
sollte die Antwort sagen. Ich sagte mit überzeugter Stimme, das ist Garantol. Sekundenlang herrschte Stille
im Raum, bis die ersten verhaltenen Lacher zu hören waren. Meine Antwort löste eine wahre Lachsalve in der
Klasse aus. Fräulein Meier kniff die Augen zusammen und liess ein lautstarkes,...Ruuuhe bitte vernehmen,
indem sie noch beschwörend die Arme anhob.
Sehr ergriffen hätte ich mich nun am liebsten unsichtbar gemacht. Ich konnte mich aber nur in die hintere
Reihe verkrümeln. Indesssen wurde die richtige Antwort mehrfach wie in einem Chor von den anderen
Schülern genannt.
Die Erkenntnis daraus war für mich eindeutig, nur Wissen ist Macht und nicht der Augenschein.
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