Das unheimliche Zimmer

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Helga
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Das unheimliche Zimmer

Beitrag von Helga »

Diese Geschichte kann auch unter *Stenolektüre* in Kurzschrift gelesen werden.

Das unheimliche Zimmer


Als Alice das kleine Zimmer unter dem Dach betreten will, schlägt ihr sogleich
ein muffiger Geruch entgegen. Unwillkürlich weicht sie einen Schritt zurück.
An den Wänden hängen gruselig aussehende Fratzen aus Holz, die sie
dämonisch angrinsen.
Alice schaudert. Obwohl sie schon durch eine Bekannte vorgewarnt ist, die ihr
gestern noch erzählte, dass die alte Frau Fink einen Hang zum Mystischen
haben soll, übertrifft das, was sie hier sieht, alles erwartete.
Die dunkelrot gemusterten Tapeten mit den grässlich grünen Drachen darauf
wirken auf Alice wie geronnenes Blut, das an den Wänden klebt. Die
Wandlampen, die wegen der heute sehr früh einsetzenden Dunkelheit
eingeschaltet sind, werfen gespenstische Schatten auf das Tapetenmuster und
lassen die abgebildeten Tiere beinahe lebensecht aussehen.
Alice steht unschlüssig im Türrahmen. Ihre Hände verkrampfen sich
ineinander.

„Kommen Sie doch näher, junge Frau!“ Die alte Dame in dem
Ohrensessel blickt Alice erwartungsvoll entgegen. „Ich freue
mich, dass Sie sich die Zeit nehmen, mir für eine Stunde
vorzulesen. Sie müssen wissen, meine Augen sind so schlecht
geworden. Und meine Hände – Gischt!
– Ich kann nicht einmal mehr die Zeitung festhalten. Ja, das Alter macht einem schon zu schaffen.“
Mit einer ungeschickten Bewegung winkt sie Alice zu sich heran.

„Sprechen Sie bitte laut, ich verstehe Sie sonst nicht, Frau ....! Ach, ich habe
Ihren Namen bereits wieder vergessen. Verzeihen Sie!“
„Das macht nichts. Wagner, Alice Wagner!“
„Ach ja, Frau Wagner. Sehen Sie da vorne auf dem großen Tisch dieses dicke
Buch liegen? Es ist ein Gedichtband! Ich liebe die Lyrik über alles! Lesen Sie
mir doch bitte daraus vor.“
„Welches Gedicht möchten Sie denn gerne hören, Frau Fink?“
„Ach, das überlasse ich Ihnen. Schlagen Sie einfach eine Seite auf und fangen
Sie irgendwo an. Ich kenne sie sowieso schon alle. Aber ich höre sie immer
wieder gern.“

Durch den warmen Klang ihrer Stimme fasst Alice Vertrauen zu Frau Fink.
Eigentlich wirkt sie ganz sympathisch. Diese schaurige Umgebung passt so gar
nicht zu ihr. Aber wenn sie sich hier wohl fühlt, ....! Vielleicht kann ich es dann
auch für die eine Stunde am Tag.

Während Alice sich einen Stuhl in der Nähe des Fensters zurechtrückt,
vernimmt sie hinter sich ein knarrendes Geräusch und zuckt zusammen. Scheu
blickt sie in die Teufelsmasken, als sie sich umdreht. Für einen Moment spielen
ihr die Nerven einen Streich. Sie hat das Gefühl, als würden die Gesichter an
den Wänden lebendig und miteinander sprechen. Alice wischt sich mit dem
rechten Handrücken über die Augen. Ein Spuk – es ist ein Spuk, geht es ihr
durch den Kopf.

Frau Fink, die Alice Erschrockenheit sogleich bemerkt, lächelt.
„Das ist der Schrank. Altes Holz – brüchig wie meine Knochen. Sie werden sich
noch an das Knarren gewöhnen.“
„Hm“, erwidert Alice leise .
Ihr Unbehagen steigert sich. Nur schwer kann sie sich auf den Text der
Gedichte konzentrieren.
Am liebsten möchte ich auf der Stelle wegrennen. Aber Frau Fink würde mich
überhaupt nicht verstehen.
Zögernd beginnt sie zu lesen. Ihre zitternden Hände umklammern den
Gedichtband.
Nachdem sie einige Zeilen gelesen hat, spürt Alice plötzlich einen kalten
Luftzug, der zu ihr herüber weht.
Erschrocken fährt sie zusammen. Sie hat niemanden ins Zimmer kommen
hören. Wie von weit her dringen Frau Finks Worte an ihr Ohr.
„Schließen Sie doch bitte das Fenster, Frau Wagner. Der rechte Flügel ist
aufgeflogen!“
Erst durch die Bitte der alten Frau nimmt sie das geöffnete Fenster wahr.
Gedankenverloren steht sie auf und schließt es.

Reiß dich zusammen, sagt sie sich. Aber das unheimliche Zimmer hat sie
bereits soweit in seinen Bann gezogen, dass sie ein Fenster, das durch einen
Luftzug auffliegt, nicht mehr mit Vernunft registriert. Sie nimmt sich fest vor,
nicht gleich erneut in Panik zu geraten, egal was auch noch geschehen mag,
Doch ein weiteres Ereignis lässt sie ihre Vorsätze gleich wieder vergessen.
Sie hat sich gerade wieder auf ihren Stuhl gesetzt und will weiter vorlesen, als
ihr seltsame Veränderungen an Frau Finks Gesichtszügen auffallen. Die Alte
starrt wie unter Hypnose auf den alten Schrank neben der Türe. Die
Umgebung um sich herum und auch Alice scheint sie plötzlich völlig vergessen
zu haben. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet sie auf die sich behutsam
öffnende Schranktüre. Lautlos bewegen sich ihre Lippen.
Kerzengerade sitzt sie da mit verklärtem Gesichtsausdruck und führt ein
„Zwiegespräch“ mit einem Unsichtbaren. Dann – auf einmal – ein Strahlen auf
ihrem Gesicht, so, als habe sie eine frohe Botschaft erhalten. Sie nickt heftig
mit dem Kopf.
Währenddessen knistert und raschelt es aus dem Schrankinnern.
Alice kriecht eine Gänsehaut den Rücken herunter. Wie versteinert beobachtet
sie die Szenerie.
Sie nimmt all ihren Mut zusammen und versucht, Frau Fink anzusprechen,
aber ihre Stimme versagt, auch ihre Beine wollen ihr nicht gehorchen.
Lieber Gott, lass es nur ein böser Alptraum sein, betet sie.

Es kommt Alice wie eine Ewigkeit vor, die inzwischen vergangen zu sein
scheint, als Frau Fink allmählich wieder aus ihrer Trance erwacht. Fast
gleichzeitig verstummen auch die unerklärlichen Geräusche aus dem Schrank
und die Schranktüre schließt sich wie von Geisterhand, genauso wie sie sich
geöffnet hatte.
Im nächsten Augenblick ist alles wieder so, wie es bei Alice’ Ankunft in diesem
Zimmer war.

Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sieht sie die alte Frau entgeistert
an. Alice ist am Ende ihrer Kräfte und versucht, zur Wirklichkeit
zurückzufinden. Doch stattdessen wird sie in einen tiefen Abgrund gestürzt.

„Ist Ihnen nicht gut, Frau Wagner? Mein tägliches Gespräch mit meinem
verstorbenen Mann hat Sie wohl etwas aus der Fassung gebracht? Ach,
Entschuldigung! Ich hätte es Ihnen gleich zu Beginn sagen müssen, dass ich
zwischendurch kurz mit Archi sprechen muss. Archibald und ich waren fünfzig
Jahre verheiratet. Vor drei Jahren erlitt er einen Herzinfarkt. Er war auf der
Stelle tot. Ich vermisse ihn noch immer so schrecklich. Wissen Sie, wenn man
so lange miteinander gelebt hat, wächst man irgendwie zusammen. Man kann
dann fast nichts mehr ohne den anderen machen. Er besucht mich jeden Tag.
So kann ich mich wenigstens immer ein paar Minuten mit ihm unterhalten. Ich
habe ihm eben erzählt, dass Sie mir nun die Gedichte vorlesen, die wir früher
oft gemeinsam gelesen haben.“

Alice hört die Worte von Frau Fink wie durch Watte.
Nicht nur die Geschichte dieser Frau ist wahnsinnig, sondern ich bin es auch,
denkt Alice. Sie glaubt tatsächlich für einen Moment, den Geist des
verstorbenen Mannes im Raum zu spüren.
Schweiß tritt ihr aus allen Poren. Das Buch fällt ihr aus der Hand.

„Frau Fink, - ich glaube, es ist besser, - wenn ich jetzt gehe“, beginnt Alice
zögernd.
Sie ist erleichtert darüber, wenigstens ihre Stimme soweit wieder in der
Gewalt zu haben, um diese Worte artikulieren zu können.
„Ja, es ist recht so, Frau Wagner! Es war sicher alles ein wenig viel für Sie
heute! Aber Sie kommen doch wieder?“
Alice kann nur kurz nicken. Dann eilt sie aus dem Zimmer.

Im Treppenhaus hört sie hinter sich eine helle Frauenstimme ihren Namen
rufen.
„Hallo, Frau Wagner! Haben Sie einen Augenblick Zeit? Ich bin die junge Frau
Fink und muss Ihnen unbedingt etwas erklären!“
Alice schreckt erneut auf, als sie ihren Namen hört.
„Frau Wagner, warten Sie bitte einen Moment. - Es fällt mir nicht ganz leicht
darüber zu sprechen -aber - Sie haben doch gerade der Großmutter
meines Mannes vorgelesen. Nun - die alte Frau hat ihre bestimmten Rituale.
Sie haben vermutlich heute Nachmittag eine Kostprobe davon mitbekommen.
Ich könnte gut verstehen, wenn Sie durch das Geschehene sehr irritiert
worden sind. Sie sind ja kreidebleich im Gesicht!“

„ Ich kann das Ganze nicht verstehen! Das ist ja Wahnsinn! Das Gespräch mit
einem Geist! Und dann dieser Schrank ...“
„Ja – genau das möchte ich Ihnen erklären! -
Hinter diesem Schrank befindet sich eine Geheimtüre, von deren Existenz die
alte Frau Fink jedoch nichts ahnt. Um ihr das Gefühl zu geben, ihr geliebter
Mann käme jeden Tag zu einem Gespräch zu ihr zurück, platzierte mein Mann
das Möbelstück in ihrem Zimmer so, dass es genau vor diese Geheimtüre zu
stehen kam. Er sägte die Rückwand des Schrankes in der Größe der
Geheimtüre aus und kann so von hinten in das Möbelstück hinein steigen,
unsichtbar für jedermann.
„Und Frau Fink weiß nicht, dass es ihr Enkel ist? Sie glaubt im Ernst fest
daran, ihr verstorbener Mann besuche sie?“
„Ja, natürlich! Wir lassen sie in diesem Glauben!“
„Mein Gott! Das ist absurd!“ Alice schüttelt verständnislos den Kopf.
Mit beiden Händen hält sie sich am Treppengeländer fest.
Ich kann kaum glauben, was ich da höre. Wo gibt es denn so etwas? Doch nur
in einem schlechten Film!? -
Der Enkel soll hinter diesem mysteriösen Spiel stecken? Und seine Frau
unterstützt ihn auch noch! In diesem Haus müssen alle verrückt sein!
Sie zittert am ganzen Körper. In ihrem Kopf dreht sich alles.
Alice hat nur noch den einen Gedanken – raus! So schnell wie möglich weg
von hier und nie wieder einen Schritt in dieses Haus setzen müssen .

Fast über ihre eigenen Füße stolpernd, eilt sie die Treppenstufen herunter und
rennt ins Freie.
„Frau Wagner, Sie kommen doch morgen wieder, nicht wahr?“
Diese Worte hört Alice schon nicht mehr.


© Helga Salfer
Auch aus Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.
Lena
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Re: Das unheimliche Zimmer

Beitrag von Lena »

Danke, Helga, für den Hinweis! Jetzt konnte ich diese Geschichte auch mit Genuss lesen.
Gruselig das Ganze zuerst und dann am Schluss schräg ... meinen die Leute wirklich, das wäre gut für die alte Frau??? Auch selstsam, dass man Frau Wagner nicht vorher informiert hat, was da abgeht ... und am Schluss bleibt offen, ob sie nicht doch wieder kommt. Tolle Geschichte! :mrgreen:
Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele mit sich selbst.
Seneca
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