Irina

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ANOUK
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Registriert: Freitag 26. September 2014, 14:37

Irina

Beitrag von ANOUK »

Irina

Resigniert betrachtete Armin Behrend sein Spiegelbild in der Herrentoilette der Pharmanova Enterprises. Die an der niedrigen Decke angebrachten Neonröhren setzten seine Gesichtszüge in ein nicht gerade vorteilhaftes Licht.
Armin runzelte die Stirn und drehte den Kopf schnell zur Seite. Auch nicht besser. Sein Profil glotzte ihn an, er konnte es förmlich spüren! Obwohl er literweise kaltes Wasser über seine Hände laufen ließ, stand ihm der Schweiß in allen Poren. Los, sei ein Mann! Wenn du dich schon selbst nicht leiden kannst – wie zum Teufel sollen dann andere dieses Kunststück fertig bringen?!
Ein Ruck ging durch Armins Körper. Er würde sich nicht mehr vor seinem eigenen Konterfei verstecken, nein, heute nicht! Denn heute … heute war er spontan, männlich und vor allen Dingen entschlossen!
Er stöhnte. Wie immer, wenn er seine klobige Nase und die kleinen, stets entzündet wirkenden Augen betrachtete, befiel ihn ein ungeheurer Selbstekel. Was war heute früh nur in ihn gefahren, sie einzuladen? Sicher befand sie sich gerade in Begleitung irgendeines lässigen, gutaussehenden Typen und sie lachten gemeinsam über ihn, den hässlichen Tölpel.
Frustriert stolperte Armin B. die langen Korridore des Unternehmens, in dem er schon seit fünfzehn Jahren arbeitete und sich wie zu Hause – nein, besser als zu Hause! – fühlte, entlang. Die plötzlich aufwallende Energie und die ungeheure Lebenslust, die er heute Morgen in ihrer Gegenwart verspürt hatte, waren wie weggeblasen. Übrig geblieben war nur ein langweiliges, graues, spindeldürres Männchen, das nicht mal dem Schatten desjenigen glich, der er so gern wäre.
Seine Uhr zeigte bereits drei Minuten nach acht. Trotzdem beschloss er, noch einmal schnell das Labor aufzusuchen, in dem er seine Tage (und nicht selten auch einen Teil seiner Nächte!) verbrachte. Meistens allein. Denn das neue rechnergestützte Laborautomatisierungssystem hatte inzwischen einige seiner Kollegen überflüssig gemacht.
„Nur ein kurzer Blick!“, dachte Armin. „Sicher ist sicher“. Er wollte keinen Patzer an der hochbrisanten Versuchs¬reihe verantworten müssen.
Hochkonzentriert tippte er den langen Sicherheitscode ein. Die Tür schwenkte auf und gab in dem fleckigen Halbdunkel der Nachtbeleuchtung den Blick auf einen komplizierten Auf¬bau aus miteinander verbundenen Glasapparaturen frei. Armin drück¬te auf den Schalter neben seinem Arbeitsplatz. Gleißen-des Licht überflutete den gesamten Laborbereich und enthüllte peinliche Ordnung.
Beruhigt zog er die Tür hinter sich ins Schloss. Aus technischer Sicht war er eben ein absolutes Genie auf seinem Gebiet! Kein Wunder, dass man ihn behalten hatte, während so viele andere im Zuge der Modernisierung wegrationalisiert worden sind. Nun, es sollte angeblich Frauen geben, die Männer mit Köpfchen durchaus zu schätzen wussten…
Je näher er dem Ausgang kam, desto ausgreifender wurden seine Schritte. Er begann, eine flotte Melodie aus den Charts zu pfeifen.
Vielleicht war sie tatsächlich gekommen! Armin
schwenkte sein Köfferchen wie ein Schuljunge. Möglicherweise stand sie, wie ausgemacht, auf dem unteren Parkdeck und wartete – auf ihn!
Mit mühsam unterdrückter Vorfreude bog er um die letzte Ecke und eilte hastig auf sein nagelneues Firmenfahrzeug zu. Dann die unausweichliche Ernüchterung. Keine Spur von ihr – wieso auch? Jemand wie er war ein¬fach kein Mann für ein engelsgleiches Wesen wie sie. Geknickt strich Armin sich die spärlichen Haare aus der Stirn. Er war so ein Hohlkopf! Wie hatte er sich auch nur dem Hauch einer Illusion hingegeben können?
Gerade wollte er in seinen Wagen steigen, als er in der bleiernen Stille des dreistöckigen Parkhauses ein leises Rascheln vernahm. Schon löste sich ein Schatten aus der Dämmerung und hinter dem breiten Pfeiler, neben dem er seinen anthrazitfarbenen BMW abgestellt hatte, huschte eine zierliche Frau hervor: Irina!
Anstelle des hellen Kamelhaarmantels, den er ihr rund zwölf Stunden zuvor mittels einer tückischen Ansammlung Schmelzwassers am Fahrbahnrand komplett versaut hatte, trug sie nun einen nicht weniger schicken Trenchcoat mit Fellbesatz. Als das Licht der Neonröhre ihre langen, weizenblonden Haare, die unter der modischen Pelzkappe hervorschauten, streifte, konnte er sein Glück kaum fassen. Angesichts ihrer vollen Lippen und ihrer grüngesprenkelten Katzenaugen würde selbst eine Königin vor Neid erblassen, dachte Armin.
Ach, Irina … Sie war einfach so viel mehr, als er sich je zu erhoffen gewagt hätte! Jahrzehntelang hatte sich Fortuna keinen Deut um ihn geschert und nun schüttete sie ihr Füllhorn so reichlich über ihm aus!

Er nannte ihn seinen „schicksalsträchtigen Tag“, jenen nasskalten Montag Anfang Januar, an dem die junge Frau früh morgens direkt neben seinem vorbeirauschenden Wagen (und folglich inmitten der Schmutzwasserfontäne!) gestanden hatte. Nicht gerade die beste Ausgangssituation für einen Flirt …
Doch dann hatte Amor die Regie übernommen! Dem kleinen Liebesgott und seinen bittersüßen Pfeilen hatte Armin es zu verdanken, dass Irina seine Einladung an¬genommen und nach Feierabend wirklich auf dem Park¬deck auf ihn gewartet hatte. Wie sonst sollte dieses Wunder zustande gekommen sein?!
Immer, wenn er an diesen besonderen Abend zurückdachte, überkam ihn ein wunderbar warmes Gefühl voller Glück und Hoffnung. Dass das Leben endlich et¬was Schönes für ihn bereithielt. Dass das Schicksal es wirklich gut mit ihm meinte. Mit ihm, Armin Behrend, dem hässlichen Vogel, dem absoluten Trampeltier in Liebes¬¬dingen.
Entgegen ihrer Abmachung, dass er Irina zur Wiedergutmachung seines morgendlichen Missgeschickes ins „Paraíso“ ausführen würde, waren sie bei ihm gelandet. Ganz selbstverständlich hatte Irina in die Planung des Abends eingegriffen. Vollkommen unkompliziert und natürlich als sei absolut nichts dabei, in sein ungastliches Apartment einzukehren.
Bereits nach dem ersten Glas Rotwein hatte Armin ein seliger Schauer ergriffen: Im Glanz von Irinas Anwesenheit war aus seiner sterilen, ungemütlichen Behausung plötzlich ein Heim geworden. Und mit dem letzten Tropfen des schweren Bordeaux hatte Irina ihn nicht nur all seiner Selbstzweifel, sondern auch seiner Hosen entledigt.
Seitdem war sie nicht mehr von seiner Seite gewichen. Außer natürlich, wenn er zur Arbeit musste. Wie gerne hätte sie ihren „Brummbären“ auch dorthin begleitet, aber das war leider gegen die Regeln.
Wenn er daran dachte, was für einen entzückenden Schmollmund sie auf dieses Verbot hin gezogen hatte, musste er lächeln: anhängliche, kleine Schmusekatze!
Armins Herz hüpfte bei dem Gedanken daran, dass eine Frau derart an ihm hing – noch dazu eine Frau dieses Kalibers! Beileibe, es fiel ihm nicht leicht, seiner Liebsten eine derart herbe Enttäuschung beibringen zu müssen: Aber die Firmenregel war für ihn oberstes Gesetzt und besagte nun mal, dass nur einige wenige ausgewählte Mitarbeiter Zugang zum Labor hatten.
Sollte er wirklich geglaubt haben, dass Irina sich daraufhin ernüchtert oder gar beleidigt zurückziehen könnte, hatte er sich gehörig in ihr getäuscht: bereits kurze Zeit später hatte sie eine weitere romantische Anwandlung. Und wie um alles in der Welt hätte er dem neuen Wunsch seiner Prinzessin nicht nachgeben können? Ihre Bitte war so klein, so bescheidenen, so rührend!
Die meisten Frauen (hatte er sich sagen lassen!) waren unerhört teuer, wünschten sich edlen Schmuck, Designerklamotten und Luxusreisen – aber sie?! Irina verlangte fast nichts – obwohl sie ihm wochenlang so viel gegeben hatte! „Ja mein Liebling“, flüsterte er bewegt. „Was für eine hübsche Idee aus deinem schönen Köpfchen.“
Er konnte zwar nicht recht verstehen, dass eine Klassefrau wie Irina einen derartigen Liebesbeweis brauchte, aber wenn er ihr damit zeigen konnte, wie viel sie ihm bedeutete …

„Die Tür wies keinerlei Einbruchspuren auf. Die Polizei geht davon aus, dass der oder die Täter den Zahlencode kannten“. Es rauschte in der Leitung. Oder rang sein Chef gerade um Atem?
Armin schwieg. Seine Hände zitterten. Sein ganzer Körper zitterte, als hätte er soeben die komplette Gewalt über ihn verloren.
Die Kälte der letzten Nacht saß ihm noch immer tief in den Knochen. Als er vorhin, im frühen Morgengrauen, vom penetranten Klingeln des Telefons aus dem Tiefschlaf gerissen worden war, hatte er zudem feststellen müssen, dass er mutterseelenallein war: Irinas Seite in seinem Bett stand leer. Kein Wunder, dass er so fror …
Noch immer hielt er den Hörer fest umklammert, als suche er Halt.
„Die Polizei hat sofort den gesamten Labortrakt abgeriegelt. Der Inspektor möchte nachher dringend mit Ihnen sprechen“, röhrte es vom anderen Ende der Leitung. „Schließlich sind Sie doch dafür zuständig.“
In Armins Kopf herrschte vollkommene Leere. „Bitte? Ich verstehe nicht ganz …“
Die Stimme seines Vorgesetzten klang ungewöhnlich harsch und ungeduldig: „Mensch, Behrend, nun reißen Sie sich aber mal zusammen. Ich spreche von den neuen Zahlenkombinationen jeweils zum Monatsersten! Die liegen doch in ihrer Verantwortung?!“

Es war ein unseliger Tag Anfang Februar, an dem man Armin Behrend in aller Herrgottsfrühe davon unterrichtet hatte, dass sich Unbefugte Zugang zum Labor verschafft und das komplette Inventar zerstört hatten. Dass sämtliche Datenträger sowie Printouts entwendet worden waren und dass es sich hierbei um einen klaren Fall von Laborspionage handele. Und dass er, als Laborleiter, selbstverständlich die Konsequenzen zu tragen habe.
Wie konnte das alles angehen? Armin fühlte sich vom Schicksal geschlagen. Mit bewegungslosen Lippen nannte er dem leitenden Ermittler den aktuellen Türcode. Ohne zu überlegen, aus dem Effeff: 07012013. Das war der Tag, an dem Irina Orlow in sein Leben getreten war.
Wie sehr sie sich gefreut hatte, als er ihrem romantischen Ansinnen, ihrer Liebe mittels dieser Zahlenkombination ein Denkmal zu setzen, nachgekommen war.
Nachher würde er ihr von dem unschönen Zwischenfall, den dieser schwärmerische Wunsch bedauerlicherweise nach sich gezogen hat, berichten müssen. Auch, dass er deswegen seinen Job verloren hatte.
Wo sie wohl gerade steckte?


Diese Geschichte entstammt meinem Ebook "Erde, Feuer,Wasser, Luft und Fleisch" (5 Frauen)
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