GEH AUS MEIN HERZ UND SUCHE FREUD

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heuberger
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GEH AUS MEIN HERZ UND SUCHE FREUD

Beitrag von heuberger »

( = Dialektpassagen sind ins Schriftdeutsche übertragen )

WAS WIR UNSEREN MITMENSCHEN SO ALLES ZUTRAUEN



Liebe Freunde, es ist schon merkwürdig eingerichtet im Leben und auf der Welt. Wir erleben und beurteilen eine Begebenheit des öfteren so völlig unterschiedlich, dass wir uns fragen, ob wir wirklich über dieselbe Person reden, oder über denselben Vorgang. Wenn drei Leute ein und dasselbe Geschehen schildern, so bekommen wir oft drei völlig verschiedene Geschichten zu hören. Polizisten verzweifeln manchmal schier ob dieser Tatsache, wenn sie bei einer Vernehmung oft Aussagen erhalten, die sich völlig zu widersprechen scheinen. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Zeugen absichtlich lügen. Die Ursache all dieser Unterschiede sind zumeist die verschiedenen Sicht- und Erlebensweisen der betroffenen Personen, und natürlich deren unterschiedliche Erwartungshaltungen.
Am besten lässt sich dies durch ein Beispiel erklären. Bei der Geschichte handelt es sich um einen uralten Witz, den ich zum allerersten Mal erzählt bekam in Schopfheim, meiner ersten Heimat. Und so kommt es, dass hier die handelnden Personen Dialekt sprechen, und zwar in der dort üblichen Wiesentälerischen Variante des Alemannischen.
Es war ein strahlender Sonntagmorgen. Die Mutter stand bereits am Herd, denn sie wollte das Mittagessen zeitig auf den Tisch bringen.
Da störten ihre beiden Männer - der Vater und der fünfjährige Sohn, das Mäxli, - doch sehr, so dass sie zu ihrem Mann sagte: "Etz nimmsch da Böa, und noch gönd ´r no a bissali ins Schtädtli abe und löaget d´Schaufänschdr a, und noch chömmet ´r wieder heim umma zwölfi, noch git´s öbbis z´ässa." ( = Nimm jetzt den Buben, und dann geht ihr noch ein wenig ins Städtchen hinunter und schaut euch die Schaufenster an, und dann kommt ihr wieder heim um zwölf, dann gibt´s etwas zu essen.)
Der Mann sagte: "Jo, das mache m´r." (= ja, das machen wir.), zog den "Sonntagsdschopen" an, schnappte sich den Buben, und los ging´s.
Und als sie im Städtchen waren, schlenderten sie über den Marktplatz, und der Vater zeigte seinem Sohn die verschiedenen Häuser, die dort standen, und versuchte, zu erklären, wozu sie dienten. Denn er war, für seine Zeit, doch schon ziemlich fortschrittlich eingestellt und wollte tätig mitwirken bei der Kindererziehung. So machte er auch keine Witze auf Kosten des Kindes, wie es sonst gewöhnlich so viele Deppen zu tun pflegen. Das hatte den Vorzug, dass er den Jungen quasi als gleichberechtigt behandelte, und mit ihm ernsthafte Unterhaltungen auf Augenhöhe zu führen versuchte, wo dies möglich war. Das klappte auch zumeist, denn er hatte gelernt, gefährliche Klippen zu umschiffen, ohne in die Gefahr des Kenterns zu geraten. Wie gesagt, dies klappte zumeist.
Und auch diesmal klappte es sehr gut - zunächst wenigstens.
Als sie so mitten auf dem Marktplatz standen, und der Junge meinte: „Do schtöh´n aber viel meh Hüüser als wia bi üüs drhei.“ (= da stehen aber viel mehr Häuser als bei uns daheim ) „Jo, weißsch du“, antwortete der Vater, „mir sind do jo au im Schdädtli und nit numme im Dorf.“ (= Ja, weißt du, wir sind hier ja auch im Städtchen und nicht nur im Dorf). Die Häuser am Marktplatz hatten zum Teil prächtige Fassaden und waren insgesamt schön herausgeputzt. Dem Jungen fiel ein besonders großes und schönes Haus, mit Laubengang am Erdgeschoss und mit geschnitzter großer Eingangstür auf. „Babba, was isch das für a Huus?“ ( = Papa, was ist das für ein Haus? ) „Das isch´s Rothuus, dört sitzet dr Buggimeischdr und dia Schdadtröt und regieret.“ (= Das ist das Rathaus, dort sitzen der Bürgermeister und die Stadträte und regieren. )
Nach einer Weile: „Du, Babba, was isch das do für a Huus?“ ( = Du, Papa, was ist das da für ein Haus? ) „ Dös isch ´s Schualhuus, Böab, dört chunnschd du au amol ane, wenn du größer und älter bisch, zum Öbbis-z-lehra.“ ( = Das ist das Schulhaus, Junge, dort kommst du auch mal hin, wenn du größer und älter geworden bist, um etwas zu lernen. ) Und so ging es weiter, alle Häuser am Marktplatz wurden vom Sohn in Augenschein genommen, und ihre Funktion wurde vom Vater erklärt: Kaufhaus, Gasthäuser und so weiter.
Schließlich wurde es Zeit, heimzugehen. In einem Seitengässchen fiel dem Buben ein kleines Häuschen auf, zu dessen Eingangstür eine holprige, kleine Treppe führte. Vor den Fenstern standen Geranien in Töpfen; die blühten still und gottergeben vor sich hin.
Der Vater beschleunigte seine Schritte und versuchte, die Aufmerksamkeit des Jungen auf die andere Straßenseite zu lenken.
Aber schon kam die Frage. „Babba, was isch das do für a chliinis Hüüsli?“ (= Papa, was ist das da für ein kleines Häuschen?) Der Vater schluckte, wurde rot und überlegte krampfhaft, ob und wie er hier eventuell der geforderten Antwort entrinnen könne. Aber dem war nicht so! Also blieb ihm, gemäß seiner eigenen pädagogischen Einstellung, nichts anderes übrig, als dem Buben Rede und Antwort zu stehen. - „Das isch´s Fröidehuus“, ( = Das ist das Freudenhaus ) zischte er und nuschelte dazu so fürchterlich, dass er kaum zu verstehen war. Aber der Junge ließ nicht locker. Was für Freuden gäbe es denn dort, und bekäme man die so, oder müsse man dafür Eintritt bezahlen, wie vor kurzem beim Kasperletheater. Und ob es im Freudenhaus auch ein Krokodil gäbe, das dem Kasperle bloß sein Geld rauben wolle?
Der Vater wand sich innerlich, während der Junge munter und fröhlich weiter fragte. Schließlich gab er es ganz auf. „Frog halt d´Mamme.“ (= Frag halt die Mama ). Und, mit einem gemurmelten Nachsatz „Vielliecht kchennt dia sich do besser us.“ (Vielleicht kennt die sich da besser aus) - Dieser „Notruf“ brachte ihm später noch viele Vorwürfe seiner Frau ein. Der Junge aber war jetzt erst so richtig in Fahrt gekommen und neugierig geworden auf die Art der Freuden, die dort im Freudenhaus geboten würden. Im Geiste sah er sich schon dort an Kindergeburtstagen üppig mitschlemmen, mit „sellera düüra Schwyyzer Ovomaltine statt dem billigera Kakao, wo´s z´Dütschland g´gäh hät“. ( = mit jener teuren Schweizer Ovomaltine, statt dem billigeren Kakao, den es in Deutschland gab. )
Also war es für ihn beschlossene Sache, dort hinzugehen. Den „Eintritt“, wie er dachte, würde ihm schon die Mutter geben.
Doch die Mutter dachte nicht mal im Traum daran. Im Gegenteil, sie wurde richtig böse, ließ ihre ganze Wut am Vater aus, und gab dem Buben zu verstehen, dass er besser nie mehr fragen sollte, nie mehr. Der kam sich zwar jetzt vor wie Elsa von Brabant nach Lohengrins Frageverbot, aber er gedachte leichthin, eben eine andere Geldquelle anzuzapfen. Denn auf die geheimnisvollen Freuden verzichten wollte er jetzt auf keinen Fall mehr , dazu war er viel zu neugierig geworden, und der Sportsgeist war auch in ihm erwacht. Also beschloss er - Geld hin, Geld her - zu handeln, getreu dem Spruch: Wo ein Wille ist, findet sich auch ein Weg!
Bei erster Gelegenheit ging er seine Großmutter besuchen. Die fragte er, ob sie ihm etwas Geld geben könne, er wolle sich davon eine Freude kaufen. Die Großmutter verstand, er wolle sich eine Freude machen und gab ihm 50 Pfennig, nicht ohne ihn zu ermahnen, sein Geld nicht so einfach bloß zum Fenster hinaus zu werfen. Daran erkennen wir, dass die Alemannen doch sehr nahe mit den Schwaben verwandt sind – und mit den Schotten.
Und so hüpfte das Mäxli in freudiger Erwartung auf einem Bein in Richtung Freudenhaus „ins Schdädtli abe“.
Als er bei dem Häuschen angekommen war, lief er rasch die paar Stufen zur Haustüre hoch und zog an dem altmodischen Klingelzug. Drinnen ertönte ein helles Glöckchen. Erst nach einiger Zeit hörte man schlurfende Schritte und eine verschlafene weibliche Stimme rief: „ Wa mi´ant ihr au ällawiel so friah cho! Mir sind jo no nit uusgchlofa!“ ( = Was müsst ihr auch immer so früh kommen! Wir sind ja noch nicht ausgeschlafen. ) Es war immerhin bereits halb elf Uhr morgens. Dann drehte sich vernehmbar ein Schlüssel im Türschloss, und die Tür ging auf. Zuerst wurde ein Kopf sichtbar; die Haare steckten in Lockenwicklern, und darüber war ein halb durchsichtiger Shawl gebunden. Darunter ein ziemlich fahles, leicht zerknittertes Gesicht mit zugekniffenen Augen, die noch nicht so viel helles Tageslicht vertrugen. Darunter kam dann der Rest der Frau zum Vorschein, die einen grauen Morgenmantel über einem rosa Unterrock trug. Diesen Morgenmantel hielt sie mit einer Hand am Kragen zusammen.
„Wa witt du, Biabli?“ ( = Was willst du, Kind? ), fragte sie. Da streckte der Junge ihr seine Hand mit dem Fünfzigpfennigstück entgegen und sagte, er wolle eine Freude kaufen. Das verschlug der Frau zunächst mal die Sprache.
Aber dann rang sie sich doch dazu durch, ihn hereinzubitten. „Chumm erscht amol iina!“ (= Komm erst mal herein.) Und dann führte sie ihn in die Küche. Dort saßen ihre beiden anderen Kolleginnen beim Frühstück. Die sprangen hoch wie aufgescheuchte Hühner und riefen: „Je, isch das Biabli aber herzig!“ (=Ach Herrje, ist das aber ein süßes Bübchen! ) Und, zu dem Jungen gewandt: „Sitz numme-n-ana!“ (= Setz dich nur hin! ) Dann fragten sie ihre Kollegin, was der Bub denn eigentlich bei ihnen wolle. Sie sagte es ihnen. Und jetzt war guter Rat teuer! Aber wie!
Dem Jungen fiel auf, dass alle drei Frauen in der gleichen Aufmachung dasaßen. Mit rosa Unterrock und darüber ein grauer Morgenrock. Die hatten sie günstig im Modehaus Lanser, („Hier kauft die elegante Dame“) erstanden, wobei sie noch Mengenrabatt erhielten. Die Haare waren aufgewickelt an den Kopf gepresst und mit einem Shawl bedeckt. Irgendwie sah es aus wie Uniformen bei der Heilsarmee, dachte er bei sich. Dazuhin hing in der Küche noch ein Duft nach billigem Parfüm. Es handelte sich dabei um „Bleu de Ganse“, eine damals in bestimmten Kreisen sehr beliebte Duftnote. Davon wusste der Junge aber nichts.
Und die Frage stand immer noch im Raum: Was tun mit dem Buben? Schließlich fand „Irma la Douce“, die bürgerlich Erna Süßmolk hieß, die Lösung, sozusagen das Ei des Kolumbus. „Mach ´m doch a paar Honigschnitta“ ( = Mach ihm halt ein paar Honigbrote ), forderte sie ihre Kollegin auf. Gesagt, getan. Die Angesprochene schmierte ihm einige Honigbrote, wobei sie mit Butter und Honig nicht sparte, so hingerissen war sie von ihrem „Ausnahmekunden“. Dazu gab es noch eine Tasse Kaba extra. Wir sehen also, auch in diesem Etablissement herrschte halt gehobene Lebensart. Ein gewisser Hauch von „savoir vivre“ war unverkennbar!
Inzwischen hatten sich die drei Frauen völlig hergerichtet. Geschminkt, angezogen, in voller Kampfmontur umschwärmten sie wie Walküren den Jungen, der freudig den Leckereien auf dem Teller zusprach, und redeten pausenlos auf ihn ein.
Nach einiger Zeit hatte er genug Freude genossen und wollte wieder heim. Er stand auf, bedankte sich artig bei den Dreien und machte sich auf den Nachhauseweg, nicht ohne versichert zu haben, bald wieder zu kommen. Als er gegangen war, seufzten die Drei, jede für sich: „ Je, nai, das Biabli!“ (= Ach je, das Bübchen! ) und machten sich bereit für des Tages Müh´ und Last mit ihren gewöhnlichen Kunden.
Inzwischen waren der Großmutter aber doch Bedenken gekommen, was für eine Freude sich der Junge wohl machen wollte. Also hatte sie seine Eltern aufgesucht, und erfuhr so nebenbei, worum es eigentlich ging. Die Mutter raste vor Wut und machte ihrem Mann schwere Vorwürfe. Der hatte dadurch solch ein schlechtes Gewissen, dass er herumschlich wie ein geprügelter Hund. Auch die Großmutter war unsicher geworden und wusste nicht so recht, was da zu tun war. Das kam selten vor.
Als sie noch bang berieten, hörten sie, wie draußen die Tür ging, und der Junge kam, fröhlich pfeifend und trällernd, ins Zimmer hereingehüpft.
Da stürzten sie sich alle auf ihn und fragten ihn aus, wo er denn gewesen sei so lange. Und er gestand frank und frei, er sei im Freudenhaus gewesen. Und da seien drei Frauen gewesen, die seien genau so angezogen gewesen, „wia d´Mama, wenn sie am Morga uus ´m Bett chunnt“. (= wie die Mama, wenn sie morgens aus dem Bett aufsteht). Und dann habe er ihnen sein Geld gegeben und seine Freude verlangt – und bekommen.
Die Mutter keuchte, die Großmutter beugte sich vor und fragte: „Jo, und was nocha?“ (= Ja, und dann? )
„ Dann hänn sie mir miini Fröid g´macht: Zwöi han i gliach putzt, aber dia dritti ha-n-ich numme no abg´schleckt brocht.“ (= Dann haben sie mir meine Freude gemacht: Zwei habe ich sofort vernascht, aber die dritte konnte ich nur noch ablecken. )
Mit einem Schmerzenshauch sank die Mutter in Ohnmacht. Der Vater kümmerte sich um sie. Die Großmutter aber schickte den Buben hinunter in den Hof zum Spielen. Der war ein gescheites Bürschchen und wusste, in den Hof zum Spielen geschickt zu werden, bedeutete Familienrat der Erwachsenen. Und so war es denn auch. Die Großmutter drohte: „ Wenn ihr etzat mit dem Böa schimpfet, noch enterb iach öich!“ (= Wenn ihr jetzt mit dem Buben schimpft, dann enterbe ich euch!) Auf die Schnelle fiel ihr keine bessere Drohung ein.
Am Nachmittag ging sie dann selber „ins Schtädtli abe“, ins Freudenhaus. Die Warnung ihrer Schwiegertochter, wenn jemand sie dort hingehen sähe, dann hielte man sie womöglich auch noch für „so eini“, wischte sie mit einer kurzen Handbewegung weg: „ Schwätz kei so dummis Züüg! Do drzua bin iach z´ alt! Iach könnt dört numme no für b´sunderi G´schmäcker aschaffa goh!“ (= Rede nicht solchen Blödsinn! Dazu bin ich zu alt! Ich könnte dort nur noch für besondere Liebhabereien und Praktiken anschaffen gehen! ) Sie erfuhr dann von den Dreien, wie sich die Sache wirklich abgespielt hatte. Da musste sie sich zuerst hinsetzen und den Bauch halten. So weh tat der vor lauter Lachen. Und dann kehrte sie nach Hause zurück, um Entwarnung zu geben.
So hört halt Jeder aus einem Bericht zunächst nur das heraus, was seinen Erwartungen am meisten entspricht. Da lohnt sich immer ein genaues Nachfragen, um der Wahrheit und Klarheit willen! Denn sonst treibt die Kunst des „Aneinandervorbeiredens“ die verrücktesten Blüten, wie in einem Sumpf.

Die Großmutter aber trifft sich inzwischen einmal in der Woche mit den Drei Grazien zum Kaffee. Hoffentlich gibt es dann aber nicht nur Honigbrote, zum Abschlecken!
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