AUF SCHWANKENDEM BODEN

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heuberger
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AUF SCHWANKENDEM BODEN

Beitrag von heuberger »

WIE LANGE GEHT EIN KRUG ZUM BRUNNEN ?

Alles geschah im Gasthof " ZUR REICHSDOSE ", vormals „Der Deutsche Adler". Dabei muss ich eingestehen, den Namen willkürlich gewählt zu haben. Es gibt wirklich einen Gasthof "ZUR REICHSDOSE", in oder bei Amtzell, auf dem Weg von Ravensburg nach Wangen im Allgäu. Ein stattliches Anwesen mit sicherlich vorzüglicher Gastronomie. Den Namen habe ich gewählt, weil er mir so geheimnisvoll und mystisch genug klang, um das zu berichtende Geschehen dort anzusiedeln.
Vielleicht waren dort einmal in längst vergangenen Notzeiten die Reichskleinodien Krone, Zepter und Reichsapfel versteckt worden, von oder vor den "räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern", speziell des "Allgäuer Haufens" - je nach historischer Einstellung und Parteinahme - um sie vor Raub und Schändung durch die jeweiligen Feinde zu schützen. Heutzutage würde man dort bestimmt die abgelegten Hosenanzüge unserer derzeitigen Bundeskanzlerin aufbewahren, bzw. die vielen Fettnäpfchen, in die der Kandidat der Opposition, der selber gerne Kanzlerin werden will, hineintrat und immer noch -tritt.

Wie dem auch sei, der Name ist außerordentlich genug, um dort auch außerordentliche Ereignisse ablaufen zu lassen. - Ich erkläre aber auf Ehr und Gewissen, dass der Ort des Geschehens in Wirklichkeit ein anderer war. Wirtin war damals die Witwe Genoveva Philomena Abendroth, geborene Magermilch, Metzgerstochter, daher auch "Wurschtvev" gerufen, seltener "Meeeena", oder gar "Filameeeena". Sie trieb den Gasthof zusammen mit ihren beiden Töchtern Anna, " ´s Annäle" und Maria, " ´s Mariele" um. Die kleine Landwirtschaft hatte sie vor Jahren bereits aufgegeben.
Das " Mariele " war die feingeistig - künstlerisch Interessierte, während " ´s Annäle " mit ihrer stärkeren Bodenhaftung und mit ihrem Realitätssinn mehr die Frau fürs Grobe war.

Der Wirt, Ehemann und Vater, Gotthilf Abendroth, hatte vor Jahren schon das Zeitliche gesegnet. Man fand ihn eines Morgens friedlich in seinem Bette liegend, tot. Ob er vor so viel geballter Weiblichkeit in seinem Hause in eine vermeintlich bessere Welt geflüchtet war, oder ob er einfach bloß an Altersschwäche starb, sei dahingestellt. Jedenfalls meinte die Wurschtvev, in ihrer Trauer zum Notarzt gewandt, der nur noch den Tod ihres Ehemannes feststellen konnte: " Also, wisset Se, Herr Dokter, des isch doch an Siach, an elendiga. Grad etzat, wo mir so viel z´ dua hont mit dera Wiatschaft, do stirbt der oifach weg, der Kerle, ond lot eis alloi mit dera ganza Arbet! " - (= Also, Herr Doktor, Sie müssen wissen, das ist doch ein elender Lump. Gerade jetzt, wo wir so viel zu tun haben mit der Gastwirtschaft, da stirbt uns der einfach weg, der Lümmel, und lässt uns mit der ganzen Arbeit allein zurück.)
Sie war halt eine pragmatisch denkende, tüchtige schwäbische Hausfrau, die all ihr "Zuig" (= Zeug, Habe) zusammenhalten musste, und daher wenig Zeit hatte, sich um derlei unnütze Fisimatenten, wie etwa Gefühle, zu kümmern. ( Das heißt, natürlich hatte sie Gefühle, aber die verstand sie, ganz hervorragend, auf ihre eigene Art auszudrücken, eben "hehlinga" - heimlich. )

Im Erdgeschoss des Anwesens befand sich die geräumige Wirtsstube mit dem gemütlichen Kachelofen. Direkt darüber die Fremdenzimmer mit " fl. kalt und warm Wasser ".
Gleich neben der Wirtsstube lag der ehemalige Kuhstall, der jetzt als gewöhnliche Lagerstätte diente, u.a. für ausrangierte Möbel. Über dem Kuhstall war das Prachtstück des ganzen Anwesens, der große Saal, der angesichts des früheren Namens des Gasthofes einfach "Adlersaal" genannt wurde. Er war über zwei Treppen zugänglich, eine vom Hausflur im Erdgeschoß und eine, die als Notausgang diente und an der Außenseite der Mauer hinabführte. Der Saal fasste an die hundert Menschen und diente für Großveranstaltungen, wie Fasnacht (Karneval), Hochzeiten, Wahlkampf, Missionsabende der Kirche, Vollversammlungen der Vereine und an fürnehmster Stelle für die alljährlichen Theaterabende des Männergesangvereins "Liederkranz" zu den Weihnachtsfeiertagen und über den Jahreswechsel hinaus.

Die Aufführungen verliefen immer nach dem gleichen, damals gängigen Muster: Zuerst ein längeres, ernstes Stück, mit der Tochter, die vom rechten Weg abkommt und mit zwielichtigen Männern mit ausländischen Namen in die große Welt hinauszieht, und ihre einfache Herkunft samt Familie verleugnet. Ihre treusorgende, verhärmte Mutter stirbt dann vor Kummer darüber, die Tochter sieht alle ihre hochfliegenden Pläne zerfallen und verweht, kehrt reumütig zurück und vergießt heiße Tränen am Muttergrab, aber zu spät. So bleibt ihr nur ein Leben in Zerknirschung und immerwährender Reue.

Die Tränen flossen denn auch immer reichlich. Man hätte genauso gut oder gar besser noch "La Traviata" aufführen können, aber das überstieg dann doch die Möglichkeiten des Männergesangvereins und der örtlichen Blaskapelle - auch in finanzieller Hinsicht, nicht nur musikalisch.
Das Muster der Hermeneutik hat sich allerdings inzwischen sehr geändert, indem heutzutage die bösen, zwielichtigen Männer alle deutsche Namen tragen - aus Gründen der Political Correctness.
SIC TRANSIT GLORIA MUNDI !
Aber das Hauptmerkmal ist doch gleich geblieben: Eine verlorene Tochter ist und bleibt eben viel bühnenwirksamer als ein verlorener Sohn!

Nach einer etwa halbstündigen Pause, in der die Zuschauer ihre Tränen abtrocknen und sich von der Erschütterung durch das wuchtige Drama erholen konnten, unterstützt von Bratwürsten mit Brot und Bier, ging es dann, frisch gestärkt, weiter mit dem unvermeidlichen Bauernschwank in besonders rustikaler Manier, etwa nach der Art von "das Geständnis im Kartoffeldämpfer".
Was die Zuschauer dabei am meisten ergötzte, war die Tatsache, dass die Darstellerin der so unendlich leidenden Mutter des Stückes vorher jetzt plötzlich als wütende Alte ihren Mann mit dem Kochlöffel in der Hand durch das ganze Zimmer, sprich über die Bühne, jagte, bis der sich im Kartoffeldämpfer versteckte, wo dann die vormals verlorene Tochter, jetzt als sehr gegenwärtige Dienstmagd, eifrig Eimer um Eimer mit Wasser anschleppte, um es zu den vermeintlichen Kartoffeln zu gießen. Man kann sich ja selber denken, wie die Geschichte ausging.

Derlei Aufführungen gingen immer bis weit nach Mitternacht und wurden dann gekrönt durch das "Honorar" für die Ausführenden: Oberländer Bratwürste ("Nackete") mit schwäbischem Kartoffelsalat, dunkler Soße, und Brot. Es schmeckte einfach wunderbar!
( Ich kann das nur empfehlen, probiert´s einmal selber aus. Mich begeistert das ebenso wie ein Steak nach Art "Café de Paris" im ehemaligen Restaurant "Chez Charpier", im Örtchen Belmont-sur-Lausanne, im Bezirk Lavaux-Oron, auf dem Weg nach Lutry, hoch überm Genfer See - mit grandiosem Ausblick, sowohl über das Steak, als auch über den See ).

Als erste Theateraufführung in meinem Leben sah ich damals "Maria Goretti" (Opfergang eines jungen, unschuldigen Mädchens: Lieber Tod als Sex!), auf die Bühne gebracht von der ortsansässigen "Marianischen Jungfrauenkongregation" ( nicht vom Männergesangverein "Liederkranz" ). Meine Eltern hatten mich zwar davor gewarnt, einen derartigen Schmarren anzuschauen, aber allein schon der Name "Goretti" versprach spannende Handlung voll feuriger Leidenschaft unter südlicher Sonne. Ein Mord sollte auch noch in dem Stück vorkommen. Und außerdem waren Spaghetti meine Lieblingsspeise, besonders mit geriebenem Käse und viel roter Tomatensoße.
Vielleicht hatte die Lautähnlichkeit letztlich den Ausschlag gegeben, auf jeden Fall saß ich im "Adlersaal", für 50 Pfennig Eintritt, und blickte gespannt auf die Bühne. Allerding nicht allzu lange, denn ich verstand rein gar nichts von dem sicherlich bewegenden Drama, das sich dort abspielte.
Die Hauptdarsteller waren Schulkameraden von mir, die die oberen Klassen besuchten - ich selber war da gerade 7 oder 8 Jahre alt und glaubte selbstverständlich noch an den Storch, soweit mich das damals überhaupt interessierte. Irgendwie fiel mir auf, dass der Junge irgendetwas von dem Mädchen wollte, das sie ihm aber auf keinen Fall zu geben bereit war, und dass sie ihn immer abwehrte mit den Worten: " Du willscht bloß meine Ähre pflicken ond meine Keischheit - hinwäg, hinwäg ! " (= Du willst nur meine Ehre pflücken, und meine Keuschheit – hinweg, hinweg !). Damit meinte sie ihn, nicht „Ähre“ oder „Keischheit“.
Auch erinnere ich mich noch, dass es mich doch sehr wunder nahm, dass der Depp Ähren pflücken wollte; jeder wusste doch, dass man Blumen pflückt, aber keine Ähren. Und was konnte ein kleiner Bub wie ich damals schon anfangen mit den Begriffen "Ehre" und "Keuschheit"? Erst ein wenig später fiel mir auf, dass viele meiner Kameraden von Keuschheit sprachen, und dass sie im katholischen Religionsunterricht vom Pfarrer oft dazu ermahnt würden. Und so dachte ich lange Zeit, dass Keuschheit ein geheimnisvolles, spezifisch katholisches Problem sei, bzw. irgendetwas, nur für Katholiken. - So entstehen manchmal Vorurteile.

Ich habe mich später nie mehr so maßlos gelangweilt über eine Theateraufführung. Wahrscheinlich habe ich mich davon auch nie mehr ganz erholt und erwarte daher immer noch - ganz im geheimen - dass ernste Stücke mit der Aufbahrung der gemeuchelten Heldin enden, und der ruchlose Täter kniet reuig davor, und dann geht das Licht aus; und das Leben hat uns wieder. Doch leider hält sich die schnöde Wirklichkeit selten an unsere literarisch-moralischen Vorgaben!

Nach diesem Ausflug in die Niederungen der Dramatik auf dem flachen deutschen Lande geht´s nun weiter mit unserer Geschichte.
Die weiten Wege fürs Personal zum Saal hinauf waren denn auch das Problem: Um so viele Leute zu verköstigen, mussten das Annäle und das Mariele, und all die anderen Mädchen, die für derlei Anlässe als Bedienungen angestellt wurden, weite Wege mit voll beladenen Tabletts gehen, von der Küche aus, die neben der Wirtsstube unten lag, hoch in den Saal, wo die hungrigen und durstigen Gäste saßen. Um diesem Übelstand endgültig abzuhelfen, beschloss die Wurschtvev, über ihren eigenen Schatten der Sparsamkeit zu springen, und einen Aufzug für Speisen und Getränke von der Küche hinauf in den Saal einbauen zu lassen. Dazu ließ sie den Besitzer des einzigen Baugeschäfts des Dorfes, den Maurer-Mate (Martin), kommen. Der sollte ihr einen Kostenvoranschlag machen für ihr Vorhaben.
Nachdem der einen ganzen Vormittag lang den Saal aufs genaueste überprüft hatte, wozu er sich gar auf alle Viere niederließ und den Boden und die Wände abklopfte und ausmaß, meinte er bedächtig: "Also woischt, Vev, so an Aufzug kann i dir scho eibaua, des wird zwar it billig, aber da muaschd wega dem au it grad am Hungerduach naga. Wa mir aber wirkle Sorga macht, des isch uiern Saalboda. Der macht´s nemme lang. Fascht älle Tragbälka send a´gfault ond morsch. Do derfet ihr nemme arg wiascht dua, det oba doba. Am beschda wär´s, glei an nuia Boda einz´ziah. " (= Also, weißt Du, Vev, einen derartigen Aufzug kann ich dir schon einbauen, das wird zwar nicht billig, aber deswegen müsst ihr nicht gerade am Hungertuch nagen. Was mir wirklich Sorgen bereitet, das ist euer Saalboden. Nahezu alle tragenden Balken sind durchgefault und morsch. Da dürft ihr nicht mehr viel rumtoben, dort oben droben. Am besten wär´s, gleich einen komplett neuen Boden einzuziehen.)

Da musste die Wurschtvev erst einmal ordentlich schlucken, aber als der Maurer-Mate ihr die Lage gründlich erklärt hatte, stimmte sie doch schweren Herzens dem Neubau des Saalbodens zu, meinte aber: " Isch scho reacht, Mate, aber in vierzeah Däg hond mir no a Hochzig, isch älles scho zuag´sait, ond ´s Zuig b´schtellt. Am nächschda Dag danoch kennet Ihr aber a´fanga“ (= Ist schon recht, Martin, aber in vierzehn Tagen haben wir noch eine Hochzeit, ist alles bereits ausgemacht, und alles Nötige dazu ist bestellt. Am nächsten Tag danach aber könnt ihr mit der Arbeit beginnen.) „ Ischd ´s d´ Hittalacha Annalies, wo bei ui heiroded, mit ´m Schnucki, ihrem Hochzeiter? Do hörd ma jo viel im Dorf, wia d´ Leit so schwätzet!“ (= Heiratet die Hüttenlachen-Anneliese bei euch, den Schnucki, ihren Bräutigam? Da hört man ja vieles im Dorf, wie die Leute so reden!)
„Verdammt no amol, messat d´ Leit wieder ´s Maul verreißa? Dia elend Bagasch, sollet se doch besser vor dr oigene Dier kehra! Do geiht ´s koin Gotziga, wo it selber g´nua Dreck am Stecka hot! Aber ällaweil iebr andere Leit herziah ond läschdera, i ka ´s oms Verrecka it verputza!“ (= Verdammt nochmal, müssen die Leute wieder ihr Maul verreißen? Das elende Pack, sollen sie doch erst mal vor der eigenen Tür kehren! Da gibt es keinen Einzigen, der nicht selber genügend Dreck am Stecken hat! Aber andauernd über andere Leute herziehen und lästern, ich kann´s auf den Tod nicht leiden.) Sie war schon saugrob, die Wurschtvev, aber das musste man ihr doch lassen, und das ehrt sie auch heute noch in der Erinnerung:
Sie konnte es "ums Verrecken" nicht leiden, wenn man über andere Leute schlecht sprach, und das tat sie auch ausgiebig kund, wenn es dazu einen Anlass gab. D´ Hittalacha-Annelies, das ist: Anneliese aus der Hüttenlache. So heißt ein bestimmter Ortsteil im Volksmund. Sie war eine lustige Haut, d.h. sie war ein lebenslustiges Wesen, das sich aber auch sehr wohl durchzusetzen wusste. Hatte sie doch das Einverständnis ihrer Eltern zu ihrer frühen Hochzeit einzig und allein durch ihren dezenten Hinweis ertrotzt, sie wäre ein bisschen schwanger, was damals gar nicht stimmte. Bräutigam war der Eisenhauer Hans-Karl, sozusagen das Nesthäkchen, der Nachgeborene unter den 7 Kindern der Familie, und daher "Schnuckiputzi" gerufen, zuerst von den närrischen Eltern, dann von den Geschwistern, und schließlich vom ganzen Dorf, sein Leben lang. O, ihr Eltern, bedenkt doch rechtzeitig, was tut ihr euren Kindern an mit der Namensgebung! - Was die ganze Angelegenheit noch schlimmer machte, war die Angewohnheit der Schwaben, wenn sie schon Hochdeutsch sprechen, dann derart übertrieben preziös, dass es mehr nach Tuntendeutsch klingt, als nach Hochdeutsch. So riefen sie den Hans-Karl also "Schanockiepotzie", und das auch noch mit schmachtendem Augenaufschlag, was den wiederum rasend machte, bis hin zur Weißglut. Lasst euch also bloß nicht täuschen von der infamen Arglist der Schwaben, die euch vorgaukeln, sie verstünden nicht, hochdeutsch zu sprechen! Wie gesagt, die beiden hatten sich gesucht und gefunden und waren sich in echter Liebe zugetan. So beschlossen sie, zu heiraten.

Nun war in jenen Zeiten eine Hochzeit auf dem Dorf das Ereignis des Jahres, an dem alle Einwohner teilnahmen. Polterabende kannte man damals auf dem Lande noch nicht. Dafür aber „polterten“ alle Dorfbewohner am Vorabend der kirchlichen Trauung durch die Wohnung der künftigen Eheleute, öffneten alle Türen und Schubladen der Truhen und Schränke, und schauten kritisch, wie sich das junge Paar eingerichtet hatte. Eine Besonderheit gab es noch bei der Inaugenscheinnahme des ehelichen Schlafzimmers: Die erfahrenen älteren Frauen stürzten sich mit unfehlbarem Kennerblick auf die Betten, schlugen mit der flachen Hand ein paarmal kräftig auf Kissen und Decken und horchten, ob es knisterte, und wie intensiv, um dann triumphierend der Menge zu verkünden, ob das Paar auf Stroh schliefe, oder ob es sich echte Federbetten leisten konnte. Ganz gleich, wie die Prüfung auch ausfiel, ihr Urteil lautete immer: „Au nix Reachts!“ (= Auch nichts Rechtes!) Es kam jedoch niemals vor, dass bei derlei Heimdurchsuchungen irgendetwas gestohlen wurde. Dafür wurde aber auf dem gemeinsamen Nachhauseweg ausgiebig gelästert. Entweder hieß es, die Brautleute seien armselig, oder geizig., wenn sie wenig „Sach“ vorzuweisen hatten, oder aber sie galten als protzig und angeberisch. Da gab es einfach kein Entrinnen vor dem strengen Spruch der Weisen Frauen. Wer heiraten wollte, der musste da durch. (Vielleicht dachte Schiller auch an diese Schrecken, als er warnte: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet…“)

Am nächsten Tag, nach dem Trauungsgottesdienst, versammelte sich das ganze Dorf, mit Kind und Kegel, im Adlersaal. Dann wurde eine große, leere Suppenschüssel mit Deckel von Platz zu Platz an den langen Tischen herumgereicht, in die jeder der Anwesenden Geld hineinwarf. Dies war dann das Geschenk der Gäste für das Brautpaar und gleichzeitig Bezahlung für die Bewirtung. Im Grunde ein wirklich supertoller Brauch, wenn auch bar jeglicher Romantik, so aber doch äußerst praktisch. Und dann wurde ausdauernd gefeiert, gelacht, geredet, getanzt und gezecht, bis es dunkel wurde. Dazwischen rannten die Kinder durch den Saal, das dauernde Stillsitzen wurde ihnen einfach zu langweilig.
Allmählich gingen dann die älteren Gäste wieder gesättigt nach Hause, wobei speziell die Frauen sich noch Reste des Essens in mitgebrachte Plastiktüten – die gab es damals schon – einpackten und dann in ihren geräumigen Handtäschchen verstauten. Dies zeigte auch, wie praktisch solche Tüten sind. Die Kinder waren schon am späten Nachmittag gegangen.

Nur die jungen Leute, Altersgenossen des Brautpaares, blieben den ganzen Abend da, um endlich einmal ohne die strenge Aufsicht von Eltern, Geistlichkeit oder sonstigen dörflichen Autoritäten, bis hin zur allgemeinen Missgunst der Alten, kräftig über die Stränge zu schlagen. So war es halt immer gewesen und so wird es wohl auch immer bleiben: Die Alten haben über das schlechte, undisziplinierte Verhalten der Jungen gescholten und gelästert, beklagten den allgemeinen Sittenverfall, den allein schon die unkeuschen (da haben wir es wieder!), modernen Tänze heraufbeschwörten, und warnten vor dem daraus resultierenden, baldigen Untergang der Welt. Die Jungen dagegen empfanden die Bevormundung durch die Alten als Einengung ihrer Person und Einschränkung ihrer Freiheit. So geht das wohl seit Anbeginn der Welt: In jeder Generation wird mit dem Weltuntergang gedroht. Bloß hält sich die Welt selten daran.

Was wirklich untergeht, sind die alten Sitten und Einschränkungen, die Platz für die neuen machen müssen. Und diese wiederum müssen dann erst noch ihre Qualitäten unter Beweis stellen. Oder ganz einfach, bildhaft: Die alten Perücken müssen den moderneren Zöpfen weichen - in jeder Generation aufs neue. Wie sollten die Jungen denn sonst herausfinden, was sie wirklich wollen und können, wenn nicht durch Ausprobieren? Schließlich sollen sie ja lernen, einmal ihr eigenes Leben eigenständig zu führen. Jetzt, wo man unter sich war, brauchte man sich also nicht mehr so streng zusammennehmen und konnte ruhig mal nach Herzenslust „die Sau rauslassen“. Das war damals noch ziemlich harmlos, ein paar heimliche Küsse, und viel Bier. Nur die Älteren und Unternehmungslustigeren verschwanden von Zeit zu Zeit aus dem Saal und trieben sich draußen im Dunkeln herum. Wahrscheinlich wollten sie nach Mond und Sternen sehen, diese Romantiker. Drinnen wurde gelacht, geschwätzt, geraucht, getanzt und gesoffen. Alles, was als „oaschtendig (unanständig), okeisch (unkeusch) und sittenlos“ galt, faszinierte deshalb auch so besonders und musste unbedingt ausprobiert werden.

Die engagierte Tanzkapelle „MiGeHaWa“, so genannt nach ihren Musikern Michael, Georg, Hans und Walter, legte sich mächtig ins Zeug und heizte den Tanzenden mit den neuesten Schlagern und Rhythmen tüchtig ein.
Anneliese, die holde Braut, ließ denn auch keinen einzigen Tanz aus. Dauernd wurde sie von ihren Jugendfreunden zum Tanzen aufgefordert. Als besonders hartnäckig erwies sich da ihr Nachbar, ein Bewerber den sie abgewiesen hatte. Immer wieder holte er sie, um mit ihr gemeinsam wenigstens das Tanzbein zu schwingen. Einige Leute tuschelten bereits. Als dann übers Jahr dem glücklichen Paar die ersten Kinder – es waren Zwillinge – geboren wurden, fiel allgemein auf, dass beide den gleichen merkwürdigen Haaransatz hatten wie der besagte Nachbar. Aber so etwas war im Dorfe nicht neu und daher auch nichts Besonderes, außer dass es halt wieder willkommenen Anlass zum Lästern bot. In Wirklichkeit regte sich aber kein Mensch darüber auf. Und auch ich will mich hier nicht weiter darüber auslassen. Sonst steht womöglich die Wurschtvev – Gott hab sie selig! – noch aus ihrem Grab auf, beschimpft mich aufs übelste ob meiner lästerlichen Goschen, oder droht zumindest, mir im Zorn ihre Knochen nachzuwerfen.

Hans-Karl, der Bräutigam, war dem Tanzen weniger zugeneigt. Er schien zwei linke Beine zu haben, die es mit der Schrittfolge nicht so genau nahmen. So kam er immer wieder ins Stolpern und Straucheln, dass er auf die Freuden des Tanzens gerne verzichtete. Dafür sprach er lieber geistigen Genüssen zu. Seine Freunde halfen ihm dabei, indem sie ihn solange mit Bier, Wein, Schnaps und allerlei sonstigen Alkoholika abfüllten, bis er nur noch selig lallen konnte. Als auch das Abendessen vorbei war legten die „MiGeHaWa“ erneut los und bliesen sozusagen zum Sturm auf das Tanzparkett. Als größter Schlager hielt sich damals bereits seit Wochen die Polka „Anneliese“ an der Spitze der Beliebtheitsskala – heute nennt man sowas „Charts“. Wo man auch stand oder ging, zuhause oder auf der Straße, überall wurde man von „Anneliese“ verfolgt. Nirgendwo war man mehr vor ihr sicher. Sie war ein richtiger Gassenhauer geworden, ein Schlager, der überall immer wieder voll zuschlug. (Allerdings ist das Gerücht, dass unsere Hittalacha-Annelies aus diesem Grund heiratete, eben nur ein blödes Gerücht. So oberflächlich war sie beileibe nicht.) Auch bei dieser Hochzeit war dieses Stück bereits mindestens zehnmal gespielt worden, und immer wieder entzückte es die jungen Leute aufs neue und regte sie zu allerlei närrischen Dingen und immer gewagteren Späßen an. Sie sangen aus vollem Halse mit, tanzten Ringelreihen dazu – mit Anfassen, hüpften durch den Saal und wurden immer ausgelassener. Schließlich waren sie so übermütig geworden, dass sie auf Tische und Bänke stiegen, sich an den Händen fassten, um dann gemeinsam im Takt bei der Stelle von den Blumen, die vor Wut genommen wurden, "… ihre Köpfe abgerissen, und dann in den Fluss geschmissen …" ( Sie sangen etwas Anderes, das zwar ähnlich klang, aber das wörtlich zu zitieren die Wohlerzogenheit dann doch verbietet. ), also um genau bei "Fluss" gemeinsam unter lautem Gejohle auf den Boden herunter zu springen. Und das taten sie denn auch - ach, hätten sie´s doch bleiben lassen - denn „nachher tat es ihnen wieder Leid“ - sehr sogar!

Zuerst begannen die Gläser auf den Tischen zu schwanken. Aber da die Gäste voll mit Singen, Tanzen, Johlen und Herumhüpfen beschäftigt waren – und auch bereits selber schwankten - gaben sie darauf nicht Acht. Dann gab der Fußboden seufzende, klagende und jaulende Töne von sich. Da blickten Einige denn doch erstaunt hoch. Schließlich hörte man laut und deutlich ein Knistern und Knirschen, das direkt aus dem Boden zu kommen schien. Da wurde es totenstill, und Alle schauten sich verwundert an. Und dann brach ein Höllenlärm los, als ob alles Geschirr der Welt zugleich an die Wand geworfen würde, und sämtliche Gläser unter lautem Heulen und Wehklagen von den Tischen fielen. Die Saalfenster flogen nach oben aus dem Gesichtskreis. Alle Gäste sausten schreiend nach unten, samt Tanzkapelle „MiGeHaWa“. Sie fühlten sich, vermutlich, beinahe so, wie die Passagiere auf der Titanic - beim Untergang. Der ganze Saalboden war durchgebrochen und im ehemaligen Kuhstall gelandet, genau so, wie der Maurer-Mate gewarnt hatte.

Als die Wirtin mit ihren Töchtern und den Bedienungen den Lärm hörte, und sie die Erschütterung spürten, meinten sie, es wäre ein Erdbeben, und wollten schnell die Treppe zum Saal hochrennen. Aber die Treppe endete im Nichts: Es war kein Saal mehr da. Stattdessen war da nur eine dichte, undurchdringliche Staubwolke. Am Fuß der Treppe machte sich einer der Gäste, ganz mit Staub bedeckt, hustend bemerkbar und informierte sie über das Geschehene. Die Tür des alten Kuhstalls klemmte. Als sie sie mit vereinten Kräften aufgestemmt hatten, bot sich ihnen ein Bild der totalen Verwüstung, wie nach einem Bombenangriff. Es erinnerte an Hieronymus Boschs Triptychon vom Jüngsten Gericht mit Höllensturz der Verdammten. Der musste wirklich schon um 1500 in einer Art Vision vorausgesehen haben, was sich Jahrhunderte später an infernalischem Schrecken im Gasthof zur REICHSDOSE ereignete. Allein das Feuer fehlte.

Man hörte ein Jammern und Stöhnen und sonstige Klagelaute. Das Akkordeon der Tanzkapelle gab nur noch quäkende Töne von sich. Die Saiten der Gitarre waren gerissen, so, wie auch das Trommelfell des Schlagzeugs. Allein die Bassgitarre war bloß verstimmt. Und dennoch war ein Wunder geschehen, denn niemand hatte ernstliche Verletzungen davongetragen, abgesehen von ein paar Beulen und vielen blauen Flecken. "Schnuckiputzi", der Bräutigam, lag besoffen unter dem Tisch und schlief weiter. Da hatte er auch schon vorher gelegen. Später gab er an, nichts von dem ganzen Geschehen bemerkt zu haben.
Die Braut fand man in den Armen des Nachbarn, der sich schützend über sie geworfen hatte. Dort hatte sie das Unglück zwar nicht ganz ohne blaue Flecken, aber doch mehr oder weniger unversehrt, überstanden. Nur der Dutt in ihrer Hochzeitsfrisur hatte sich gelöst und lag nun, einsam und verloren, dicht neben ihr in Schulterhöhe (Am nächsten Tag brachten ihr ein paar Kinder das verlorene Haarteil zurück und meinten: „Do, Annalies, mir bringat dir dein Fifi wieder!“)

Das Mariele schlug die Hände vors Gesicht und jammerte: " O Gott, o Gott, wa fir a Oglick! Eiser schees Wiatschäftle, älles isch hi!" (= O Gott, o Gott, was für ein Unglück, unsere schöne, kleine Gastwirtschaft, alles ist kaputt!). Aber da boxte sie das Annäle in ihrer burschikosen Art mit dem Ellenbogen in die Seite und fuhr sie an: "A wa, Oglick! - Halt dei Gosch, ond sei froh, dass da etzat nemme so weit laufa muaschd, wenn da vom Saal en da Kear na muschd, geh äbbas raufhola!" (= I wo, Unglück! – Halt deine Klappe und sei froh, dass du jetzt nicht mehr so weite Wege gehen musst, wenn Du vom Saal in den Keller gehen musst, um irgendetwas heraufzuholen!)
Und ihre Mutter, die Wurschtvev, stimmte auch noch mit ein, und hieb in dieselbe Kerbe: "Gott sei Dank hont d´Leit scho g´gessa. So kennat mir wenigschtens do dafir kassiera. Ond wenn se nochher hoimganga send, nocha messat mir Weiberleit z´erscht uffreima ond putza , desmol b´sonders lang ond viel!" (= Gott sei Dank, dass die Gäste bereits gespeist haben. So können wir zumindest dafür abkassieren. Und wenn sie nachher heimgegangen sind, so müssen wir Frauen zuerst aufräumen und putzen, diesmal besonders lange und viel!) Sie dachte halt ausschließlich praktisch.

Und so wurde allen von den höheren Mächten drastisch vor Augen geführt, wohin "Oähre" und "Okeischheit" der sittenlosen modernen Tänze letztendlich immer führen, nämlich geradewegs zum Absturz ins Bodenlose.
Maria Goretti hatte gesiegt und triumphierte - auf der ganzen Linie!

Es war eine Hochzeit, von der man noch lange sprach.
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