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STOSSGEBETE

Verfasst: Sonntag 20. September 2015, 20:39
von heuberger
Heute einmal eine Geschichte ganz anderer Art.

Unser Leben plätschert in gewohnter Weise so dahin, zumeist ohne dass wir den Ereignissen besondere Aufmerksamkeit schenken, wie es eigentlich angebracht wäre.
Daher beklagen wir so gerne die Ödnis des faden Alltags, weil wir ganz vergessen, dass es in unserer eigenen Hand liegt, beziehungsweise in unserem Wesen, diesen „Schrecken der Redundanz“, die quälend uninteressante Vorhersagbarkeit unseres langweiligen Lebens, abzuändern in spannende, ständig neue Formen des Erlebens.
Es ist unsere eigene Trägheit, die uns einlullt bis hin zur dauernden Unzufriedenheit.
Erst, wenn Unerwartetes und Ungewöhnliches geschieht, dann schrecken wir hoch aus unserer dumpfen Trägheit. Und wenn wir dann selber in Gefahr geraten, oder auch Menschen, die uns nahestehen, dann schrillen plötzlich sämtliche Alarmglocken, sobald wir uns der Gefahr bewusst werden.

Wenn dann sogar das eigene Leben bedroht wird, wenn es eng wird, dann geraten wir in oft in kopflose Panik.
ENGE FÜHRT IN DIE ANGST. Schon unsere Sprache sagt uns das. Und dann besinnen wir uns. - „Da war doch noch was.“ - Richtig, da war doch noch was. In der Familie haben wir das bereits als Kinder gelernt, oder in der Schule, im Religionsunterricht. Es handelt sich hier um die Bitte um Hilfe, ums Beten.
Nun ist aber regelmäßiges Beten nicht jedermanns Sache. Vor allem das ausführliche und wortreiche Beten nicht. Selbst Jesus scheint dieser Art zu beten skeptisch gegenüber gewesen zu sein. „Ihr sollt nicht plappern wie die Heiden“, sagt er sinngemäß. Nicht in wortreichen, oft prächtigen Ritualen versuchen, Gott „herumzukriegen“. Der weiß, was uns fehlt, bevor wir ihn darum bitten. Nun sind derartige Rituale bestens geeignet, uns in eine Art beruhigende Trance zu versetzen. Aber das meint er nicht. Für ihn ist das Beten ein intimer Akt, der auch intim ausgeführt werden soll. Am besten sogar im „Stillen Kämmerlein“, wo man die Tür abschließen kann. (Matthäus 6, 7 ff )
Ich habe vor langer Zeit mal in einem Vortrag im Rundfunk gehört, dass zur Zeit Jesu ein Haus nur einen einzigen Raum hatte, der abschließbar war, und der lag außerhalb des Hauses. Das war auch der einzige Raum, in dem man wirklich allein und ungestört war. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, aber es wäre ein höchst interessanter Gedanke. Denn dort wird man all das los, was einen beschwert und bedrückt.
Eine weitere merkwürdige Beobachtung fiel mir auf: In bestimmten, gefühlsbetonten und zumeist auch belastenden Situationen sind wir oft gar nicht in der Lage, längere Gebete zu sprechen. Wir vergessen den Text vor Aufregung, oder werden zu sehr abgelenkt.
Am Sterbebett meiner Kusine hat Claude, ihr Freund von Kinderzeit an, das Vaterunser auf Französisch gesprochen. Ich wollte es auf Deutsch sprechen, aber das ging nicht, der Text war mir plötzlich nicht mehr verfügbar. Also hörte ich Claude zu, da ich den Text auf Französisch nicht auswendig kann.
Beim Bestattungsgottesdienst geschah dies wieder. Der Pastor, A.S., hielt die Predigt in Französisch, mit deutschen Einlagen. Auch hier wieder die gleiche Schwierigkeit mit dem Gebetstext in Deutsch. Ich möchte ihm hier noch besonders danken, denn ihm ist das Schrecklichste geschehen, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Seine Tochter wurde auf bestialische Weise ermordet. Er brachte, zusammen mit seiner Familie, die Größe auf, auf Hass zu verzichten, weil Hass nur noch mehr zerstört. Ich wünsche der Familie von ganzem Herzen, dass sie es eines Tages schafft, dem Mörder auch zu verzeihen (später vielleicht sogar vergeben!).
VERZEIHEN HEISST, DIE GANZE ANGELEGENHEIT AN EINE HÖHERE INSTANZ, GOTT, DAS UNIVERSUM, DAS SCHICKSAL, ZU ÜBERGEBEN, MIT DEM „AUFTRAG“, SICH UM DIE ERLEDIGUNG ZU KÜMMERN. DAMIT BEKOMMT DER BETROFFENE DIE CHANCE, SICH AUS DER WÜRGENDEN UMKLAMMERUNG DURCH DEN TÄTER ZU BEFREIEN. DENN DURCH SEINE TAT BEHERRSCHT DER TÄTER SEINE OPFER ZEITLEBENS DURCH DIE ERINNERUNG, DEN GROLL UND DAS BEDÜRFNIS NACH VERGELTUNG. DURCH DAS VERZEIHEN WERDEN ALLE DIESE BEDÜRFNISSE AN EINE HÖHERE INSTANZ ABGEGEBEN. DADURCH KÖNNEN WIR WIEDER FREI WERDEN. VERZEIHEN IST REINER SELBSTSCHUTZ. VERZEIHEN HAT NICHTS MIT MORAL ZU tun, kann aber zur Moral hinführen. VERZEIHEN HEISST SICH BEFREIEN. VERGEBEN wäre dann das höchste, aber zumeist noch ferne Ziel.

Richtige Stoßgebete, die in höchster Not ausgerufen werden, grenzen manchmal wirklich ans Alberne. Vor vielen Jahren erzählte mir mal der Vater eines Schülers, er sei in später Nacht mit seinem Auto auf dem Heimweg gewesen. Es war eine neblige Nacht. Und so geschah es, er kam von der Straße ab, das Auto überschlug sich und blieb im Straßengraben liegen. Er selber war nicht angeschnallt. Zum Glück, wie sich später herausstellte. Nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, bemerkte er ein regelmäßiges, tickendes Geräusch, als wenn Wasser tropft aus einem lecken Hahn. Zunächst wunderte er sich. Doch dann überfiel ihn regelrecht die Erkenntnis: Das war Benzin, das da aus dem Tank tropfte, unablässig. Er geriet in Panik, bekam Schweißausbrüche, sein Herz klopfte immer schneller. Tropf - tropf - tropf JETZT KANN ES ZU EINER EXPLOSION KOMMEN, DANN WERDE ICH BEI LEBENDIGEM LEIB VERBRENNEN. JETZT, WO ICH STERBEN MUSS, WILL ICH WENIGSTENS NOCH BETEN.
Er sah mich leicht verzweifelt an, und legte mir seine Hand auf die Schulter. „Bitte, glauben Sie mir, ich mach keine Witze, mir fiel aber als Gebet nur eines ein, und das hab ich dann auch gebetet, dabei musste ich selbst wieder lachen: KOMM, HERR JESUS, SEI UNSER GAST, UND SEGNE, WAS DU UNS BESCHERET HAST.“
Jetzt musste ich lachen, aber ich glaubte ihm, es muss wirklich so gewesen sein. Er berichtete dann weiter, dass es ihm schließlich gelang, ein Fenster aufzukurbeln und ins Freie zu kriechen. Nach kurzer Zeit kam dann ein anderes Auto auf der Straße heran. Das hielt er an, und dann wurde ein Abschleppdienst verständigt.

Viele Jahre später geriet ich selbst in eine derartige brenzlige Lage.
Ich wohnte damals in Mahlstetten auf dem Heuberg. Um in die Schule zu kommen, musste ich jeden Tag hinab ins Lippachtal, über Mühlheim an der Donau nach Kolbingen hoch fahren.
Es war am 6. März 2000, morgens um halb sieben Uhr. Seit Tagen herrschte bei uns eine Inversionswetterlage. Das heißt, oben auf der Hochfläche des Heubergs schien den ganzen Tag die Sonne, der Schnee war zum großen Teil bereits weggeschmolzen, und die Temperaturen ließen den nahenden Frühling bereits ahnen. Mahlstetten liegt etwa 880 m hoch. Unten im Lippachtal dagegen, etwa 250 m tiefer, herrschte oft noch dichter Nebel, die Temperaturen waren noch weitaus tiefer als oben auf der Höhe. Also fuhr ich los. Im Lippachtal lag noch Schnee auf den Wiesen. Die Straße aber war trocken und frei. Ich war etwas früher losgefahren, weil ich noch ein Arbeitsblatt für die Schüler kopieren wollte, das ich gleich in der ersten Unterrichtsstunde einsetzen wollte.
Das Autoradio dudelte so vor sich hin. Irgend einen langweiligen Popsong, der damals gerade groß herauskam. So fuhr ich zügig und gutgelaunt, rauchte eine Zigarette und dachte an nichts böses. Gerade war ich am Parkplatz, der die Hälfte des Lippachtales markierte, vorbeigefahren. Die Straßenführung bildete eine leichte Kurve. Als ich lenken wollte, geriet das Auto ins Rutschen. Jäh war die gute Stimmung vorbei. Die Straße war hier vereist. Ich versuche, durch Gegenlenken den Wagen in der Spur zu halten. Aber die Geschwindigkeit ist zu hoch. Bremsen wäre äußerst gefährlich, auch „stotterbremsen“. Mit viel Glück bin ich durch die Kurve gekommen.Jetzt kommt ein schnurgerades Stück, etwa 100 bis 150 Meter lang. Rechts die Felswand. Links eine Wiese, etwa 2 bis 3 Meter tiefer gelegen als das Straßenniveau. Nach etwa 10 bis 15 Metern der Bach. Weiter vorne eine Linkskurve. Viele hohe Bäume direkt an der Straße. Ich muss mich entscheiden, muss von der Straße runter, denn vorne, bei der Linkskurve, kann ich nicht mehr lenken. Das Auto wird womöglich voll gegen die Bäume krachen. Meine einzige Chance: Nach links von der Straße herunter, auf die Wiese. Vielleicht überlebe ich das. Jetzt wäre wohl ein Stoßgebet angebracht. Mir fällt die Geschichte ein, mit dem Tischgebet
( Komm, Herr Jesus, sei unser Gast…) Nein, sowas will ich nicht! Der Verstand funktioniert noch.
Also: „JESUS, HILF!“
Ich höre vom Beifahrersitz ein lautes, freundliches Lachen. Aber da sitzt niemand. Ich bin allein im Auto. (Das Lachen kann ich mir heute noch nicht erklären).
Dann das Steuer herumgerissen, der Wagen fliegt durch die Luft und dreht sich. Dann knallt er unsanft auf der Wiese auf. Das Licht geht aus, das Radio verstummt. Das Auto muss sich in der Luft um 180 Grad gedreht haben, denn es steht jetzt mit der Frontseite zur Straße.

So allmählich begreife ich, dass ich den „Flug“ wohl heil überstanden habe. Jetzt heißt es, herauszufinden, ob das Auto noch zu gebrauchen ist. Das Licht lässt sich wieder anschalten. Als ich das Radio wieder anmache, erklingt mit vollem Sound aus dem Lautsprecher der Choral:

Wohl mir dass ich Jesum habe,
O wie feste halt' ich ihn,
Dass er mir mein Herze labe
Wenn ich krank und traurig bin.
Jesum hab' ich der mich liebet
Und sich mir zu eigen giebet,
Darum lass' ich Jesum nicht,
Wenn mir gleich mein Herze bricht.

Dann kommt eine kurze Ansage, wer die Ausführenden waren.
„Donnerwetter“, denke ich so bei mir, „das passt aber zur Situation, wie die Faust aufs Auge. -
WOHL MIR, DASS ICH JESUM HABE.“

Und dann dudelt das Programm weiter, wie gewohnt, mit Popmusik.

Ich muss grinsen.
Aus Erleichterung?
Aus Verlegenheit?
Aus Dankbarkeit?
Ich weiß es nicht.
Dann ertönt von draußen eine laute Männerstimme: „ Hallo, läbet Sia no?“ (= Hallo, leben Sie noch?) und dann: “Noch kommet Se schnell vo dära Wies weg, bevor dr Nägschde vo dr Schdroß ra konnt ond sich näba Sia legt.“ (= Dann kommen Sie schnell von der Wiese weg, bevor der Nächste von der Straße herunterkommt und neben Ihnen zum Liegen kommt.)
Vom Bach her führte ein Weg zur Straße. Auf dem saß ein Mann, der erzählte mir, auch er sei von der Straße abgekommen und mit den Vorderrädern im Bach gelandet. Ihm selber sei aber auch nichts weiter geschehen. Es sei bereits ein Abschleppdienst verständigt.
Nach einiger Zeit kam der auch, holte das Auto aus dem Bach heraus, der Besitzer stieg zu, und das Gefährt fuhr davon in die Werkstatt. Da ging ich auch zu meinem Auto zurück, das noch immer mitten auf der Wiese stand, stieg ein, schaltete die Zündung ein, sie funktionierte tadellos, und fuhr langsam über die Wiese, dann über den kurzen Weg hoch zur Straße, direkt nach Kolbingen zur Schule. Außer ein paar Beulen hatte mein Wagen keinerlei Schaden genommen.
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Nach ein paar Tagen gewöhnte ich mich wieder zurück ins Alltagsleben.
Aber ich musste seither immer wieder an die Geschehnisse jenes Morgens denken. Ich habe sie genau so in Erinnerung, wie hier geschildert, will aber keine Deutung darüber abgeben.
Es überkommt mich aber immer noch ein Schauer, wenn ich daran denke, und ich bekomme eine Gänsehaut.

Wohl mir dass ich Jesum habe,
O wie feste halt' ich ihn,
Dass er mir mein' Herze labe
Wenn ich krank und traurig bin.
Jesum hab' ich der mich liebet
Und sich mir zu eigen giebet,
Darum lass' ich Jesum nicht,
Wenn mir gleich mein Herze bricht.

Mein Herz war nicht gebrochen.
Ich war nicht krank, nicht traurig.
Im Gegenteil, ich war zunächst erleichtert, diese Gefahr heil überstanden zu haben, später war ich dann froh, und am Schluss wirklich fröhlich darüber.

Und dennoch hat die Aussage des Chorals Recht.
Es ist eine Besinnung auf das Wesentliche,
eine Standortbestimmung:

WOHL MIR, DASS ICH JESUM HABE

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Wer will, kann sich das gerne selber anhören. Es sind dieselben Ausführenden, die ich damals hörte: Gächinger Kantorei, Bach-Kollegium Stuttgart, Leitung: Helmuth Rilling.

https://www.youtube.com/watch?v=oafyJTPxE5g


NACHBEMERKUNG:
Es hat nahezu 5 Jahre gebraucht, bis mir eine Deutung dieses Geschehens präsentiert wurde.
Im Fernsehen sah ich eine Sendung über Nahtoderlebnisse, bei der eine junge Frau berichtete, wie sie bei einem Verkehrsunfall mit ihrem Kleinwagen voll unter einen Lastwagen geriet und schwerst verletzt wurde, so dass ihr Leben in Gefahr war.
Sie berichtete, dass sie keinerlei Erinnerung habe an den Unfall selber, wohl aber an die paar Minuten und Sekunden zuvor.
Selbst an die Musik konnte sie sich noch erinnern: "KILLING ME SOFTLY" , berichtete sie und schüttelte sich vor Lachen, "wie passend!".
Und da machte es den üblichen kleinen Knacks in meinem Kopf, wenn ich was begriffen habe, und mir wurde der Zusammenhang mit meinem Erlebnis damals klar.
Ich hatte in Not ausgerufen: "Jesus hilf!"
Dann ertönte das freundliche Lachen auf meiner Seite.
und dann der Chor im Radio: "WOHL MIR; DASS ICH JESUM HABE"
Das heißt doch ganz einfach, ich habe nach Jesus gerufen, und er war da.
Die Musik hat mir dann bestätigt, freu dich, dass es so einfach ist, du rufst ihn um Hilfe, und er kommt.
Auf ihn ist Verlass.
Als mir das klar wurde, fiel ich zuerst auf die Couch und habe mich geschüttelt vor Lachen.
Da hatte ich mir die Lösung philosophischer Geheimnisse erwartet, und die Antwort war:
Suche nicht im Dickicht, sondern mach einfach mal deine blöden Augen auf und sieh genau hin!!
WAHRLICH; EIN TRIFTIGER GRUND, LAUT UND BEFREIT AUFZULACHEN!

Re: STOSSGEBETE

Verfasst: Sonntag 20. September 2015, 23:36
von Stiekel
Lieber Heuberger,

ich habe deinen Bericht mit Interesse gelesen.
Ich kann bestätigen: Beten hilft, auch wenn nicht viele Worte gemacht werden.
Dass du den Inhalt des Liedes für dich in Anspruch nehmen kannst, macht,
dass es mir warm ums Herz wird und Freude aufkeimt.

Lieben Gruß von Sabine

Re: STOSSGEBETE

Verfasst: Sonntag 20. September 2015, 23:53
von heuberger
Herzlichen Dank, liebe Sabine.
Mir ist bis heute nicht ganz klar, was damals geschehen ist. Ich selbst habe nur 2 Dinge aktiv selber gemacht :
den Wagen von der Straße herunterlenken, und das Stoßgebet.
Alles andere ist dann geschehen.
Übrigens: Dein Gedicht "Mein Vater" hat mich ermutigt, über dieses Ereignis zu berichten.
Liebe Grüße
Manfred

Re: STOSSGEBETE

Verfasst: Montag 21. September 2015, 09:45
von Stiekel
Lieber Manfred,

ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, persönliche Glaubenserfahrungen zu veröffentlichen, damit Menschen die nach Gott fragen, merken, er ist noch da und schläft nicht. Ich finde es sehr schön, dass du durch mein Gedicht ermutigt wurdest.
Mir sind diese Erlebnisse nicht fremd und ich schöpfe in Kriesenzeiten daraus. Ich wünsche dir eine gute Woche mit vielen Glücksmomenten.

Liebe Grüße von Sabine

Re: STOSSGEBETE

Verfasst: Mittwoch 23. September 2015, 08:48
von Trigger
Gute Bericht und Information.







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Re: STOSSGEBETE

Verfasst: Mittwoch 23. September 2015, 12:21
von heuberger
:) danke