Popow, Harry

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klartext
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Popow, Harry

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Schweden-Episoden /Textauszüge:
Harry Popow - „In die Stille gerettet“. Persönliche Lebensbilder. Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3

Lüpft bitte den Hut (Seite 242)

Bin in der Küstenstadt Karlskrona. Habe über das Touristbüro ein preisgünstiges Privatzimmer gebucht. Sohn Patrick und „Franzi“ – die Tochter seiner Lebensgefährtin – kommen mit dem Schiff aus Gdansk/Polen. Nach mühevollem Suchen nach der Adresse lande ich bei einer etwa 70jährigen Schwedin. Sie öffnet die Türe – ein freundliches und warmherziges Lächeln empfängt mich. Sie zeigt mir mein Zimmer und auch ihre Wohnung. Gepflegter, bürgerlicher Haushalt. Schöne, geräumige vier Zimmer. Echte Gemälde. Sie hat in der Küche liebevoll gedeckt, lädt mich ein.

Nach dem Frühstück Zeit zum Bummeln. Ich schlendere durch die weihnachtlich geschmückten Straßen. Wahnsinn, diese auf Hügeln im südlichen Schweden an der Ostsee gelegenen Stadt. Herrliche Bauten, Geschäfte, Hotels, Gaststätten. Ich äuge in die Fenster eines Restaurants mit dem Namen „Montmatre Leonardo da Vinci“. Gemälde an den Wänden, rustikale Einrichtung, sehr gemütlich, offensichtlich ein Weinlokal der gehobenen Klasse. Ich wage es nicht, hineinzugehen, ohne Cleo macht’s niemals Spaß, fühle mich dann immer so verlassen. War schon bei Reporterreisen so. Entdecke das historische Fischerviertel. Viele gelbe, blaue, rote Holzhütten. Einstige Kapitänshäuser. Was mir auffällt: Überall kannst du in die Fenster sehen, niemand zieht seine Gardinen zu wie in Deutschland. Sogar in den Miethäusern alles offen. Mein Weg führt mich zur Admiralitätskirche. Las in einem Reisebüchlein, daß diese imposante Sehenswürdigkeit 1685 erbaut wurde, eine der ältesten und größten Holzkirchen Schwedens. Mein Weg führt mich an einer Kaserne für die schwedische Marine vorbei. Ein Zug von Matrosen auf den Straßen. Ohne Gleichschritt. Leger. (Wo gibt es denn sowas?)

Bilder aus vergangenen Zeiten steigen in mir auf, die Offiziersschulen in Erfurt und Plauen. Vorbei, aber nicht vergessen! Atme auf. Vor der Kirche eine Holzfigur, genannt der „Gubben Rosenbom“. Durch den Roman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson“ von Selma Lagerlöf weltberühmt geworden, jetzt der meistfotografierte Alte in Schweden und das Erkennungsmerkmal von Karlskrona. Was mich aber sehr bewegt, das ist der Spruch auf einer kleinen Tafel: „Demütig ich bitte sehr, die Stimme ist nicht gut, gib mir ein Taler her, doch lüpf dafür den Hut.“ Wie würdevoll! Muß gelegentlich unbedingt mal mit Cleo herfahren.
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Siebzig und kein Wodka (Seite 259)

Wie feiern Schweden eine 70jährige Jubilarin? Jedenfalls anders als erwartet. Es ist der 28. Februar 1998. 13.00 Uhr beginnt die Zeremonie. Wir fahren mit dem Skoda durch Wind und Schneeregen nach dem über 20 Kilometer entfernt liegenden Ort Hellagarden. So richtig wohl ist uns nicht. Nur Schweden, wir die einzigen Deutschen, und besonders mein schwedisch läßt viel zu wünschen übrig. Auf dem Parkplatz nur SAAB und VOLVO. Mit Blumen und Geschenk bleiben wir zurück, um den Angehörigen und nahen Bekannten den Vortritt zu lassen. Erna steht in der Empfangshalle, nimmt die Glückwünsche entgegen, sehr gepflegt und elegant gekleidet, Familienschmuck angelegt. Sehr gefaßt und würdevoll.

Ein Willkommensdrink, ein orangefarbenes Getränk, wird gereicht, auch für die Kinder? Cleo wundert sich. Alle prosten der Jubilarin zu. Doch dann des Rätsels Lösung: ohne Alkohol. Alles weitere läuft wie ein Ritual ab. Jeder Anwesende tritt an Erna heran, übergibt sein Geschenk und macht eine Verbeugung, keinerlei Umarmung. Das Geburtstagskind bedankt sich für die vielen guten Wünsche und Präsente und verbeugt sich ihrerseits. Der Gatte Gerd bittet zu Tisch. Wir zählen 36 Personen. Kerzen sind angezündet. Nun fordert er die Gäste auf, sich von den Plätzen zu erheben. Man gedenkt der vor sechs Tagen verstorbenen 92jährigen Mutter von Erna. Dann ein Klopfen an seinen Tellerrand, alle dürfen sich endlich setzen.

Welch eine Achtung vor dem Alter und vor den Altvordern. Cleo und ich sind beeindruckt. Besonders bewundernswert, wie geduldig und diszipliniert die fünf Enkel, die jüngsten zwei- und dreijährig, die gesamte Zeremonie durchstehen. Eine Vorspeise wird am Tisch gereicht, ein mit Pilzen gefülltes Gebäck. Man ißt langsam. Es ist nahezu still. Links neben mir eine korpulente und lebenslustige schwarzhaarige Schwedin aus Växjö mit lebhaften dunklen Augen. Sie gesteht, daß sie nur wenig deutsch spricht, aber immerhin - wir unterhalten uns gedämpft, ich sage, daß wir hier in Schweden für immer leben, als Pensionäre usw. und so fort. Sie freut sich über jedes radebrechende schwedische Wort von mir, was sie versteht. Ich aber nicke oft, obwohl ich nicht alles begreife, wenn sie etwas sagt. Ohne jegliche Hektik trägt nur eine Serviererin die vielen Schüsseln und Fleischplatten auf das Büfett, auch Weißbrot und Butter fehlen nicht, wie bei den Russen, denke ich. Jeder stellt sich an, holt sich das seine. Wieder Schweigen. Dann und wann wird ein Schluck vom Leichtbier (2,8%) genommen. Eine Vielfalt von alkoholfreien Getränken steht bereit, keinerlei Alkohol bei dieser Feier. Nur hier und dort ein Wort im leisen Plauderton. Diejenigen, die fertig sind, gehen in die umliegenden Räume, schauen sich dort ausgestellte Gemälde an. Die anderen unterhalten sich. Ich schaue durch die Fenster nach dem naßkalten Wetter.

Da kommt Gerd, trägt schwer an einem Koffer und einer Tasche. Ich helfe ihm, alles hereinzubringen. Sein rotes Akkordeon kommt zum Vorschein. Er spielt schwedische Volksweisen. Texte werden herumgereicht, jeder singt mit, das ist Ehrensache in Schweden. Auch Cleo schmettert mit. Wieder tritt die Servierkraft in Aktion. Diesmal gibt es Marzipantorte mit Schlagsahne, Eis mit Preiselbeeren, typisch schwedisch.

Auch ohne alkoholische „Spaßmacher“ wird die Stimmung immer lockerer. Wir wollen mithalten. Cleo möchte mit der äußerst gepflegt aussehenden und selbstbewußten Tochter von Erna ins Gespräch kommen. Sie ist Deutschlehrerin, würde Cleo auch in deutsch sehr gut verstehen, aber die läßt die ganz gut schwedisch plappernde Cleo erst einmal hängen. Erst als ich mich ins Gespräch mische, läßt sie sich auf ein wenig deutsch herab. Ihre siebzehnjährige Tochter kommt hinzu, nicht weniger charmant und sich ihres guten Aussehens bewußt. Sie ist als koreanisches Baby adoptiert worden. 17 Uhr steht der älteste Sohn auf, alle anderen ebenso, man läßt Erna noch einmal hochleben: Viermal Hurra!

Die Feier ist beendet, das gleiche Bild wie zu Beginn: Erna hat sich an der Ausgangstüre postiert und alle defilieren vorbei. Wir können uns nicht bremsen, wir nehmen die schöne Siebzigjährige in die Arme. Wenig später zu Hause: Im Vertiko noch ein Rest Wodka „Gorbatschow“. Prost Cleo! (Warten auf den „Nachschub“ aus Deutschland, alkoholisches ist in Schweden sündhaft teuer und nur im staatlichen Handel zu bekommen.)
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Dorfball in Orrefors (Seite 267)

Heute abend ist Sportlerball im Volkshaus zu Orrefors. Der Fußballverein feiert. Wer geht mit 60 da noch hin? Cleo und ich und Gisela und Heinz, da er begeisterter Fan ist. Vier lange Tischreihen, weiß gedeckt. Links neben dem Eingang ein kaltes Büfett, daneben eine „Bar“. An der Stirnseite eine kleine Bühne, wie wir sie vom Dorftanz in Brüssow bzw. ich von Eggesin her kennen. Im nu füllt sich der Saal. Fast nur junge Schweden. Wir Alten dazwischen. Ehrung für die Besten und tosendes „he,he“ und Arme hochwerfen. Dann stürzt alles ohne jede Hemmung an das Essen. Schrimps (kleine Krabben) aus Holzkisten, Brötchen, Butter, Gebackenes, Salat, Sahne. Vor dem eigentlichen Tanz ein Vorsänger. Spontan singen alle laut und temeramentvoll mit. Plötzlich stehen abwechselnd mal die Frauen, mal die Männer im Takte einer Melodie auf. Endlich macht die vierköpfige Kapelle „Bärbel & Co“ ernst mit der Tanzmusik. Lautstark, dröhnend, aber sehr rhythmisch. Die Sängerin der Band hat´s drauf. Wirklich mitreißend. Alle Titel in schwedisch, nur einer in englisch. Ungeniert geht es gleich zur Sache, ohne Kunstpausen, wie wir sie von früher her kennen. Die in offenem Hemd, meist ohne Schlips und mit kurzen Haaren tanzenden Jungen halten ihre Partnerinnen sehr eng umschlungen. Als wäre es die letzte Gelegenheit, in diesen abgelegenen Wäldern etwas warme Freude zu pachten. Die in elegantem Schwarz oder Grau gekleideten Mädchen werfen mal den linken, mal den rechten Fuß nach hinten, und sie hängen wie Mehlsäcke in den Armen des Partners. Man kennt sich aus jährlichen Veranstaltungen dieser Art. Cleo wird von Glasdesignern geholt. Man fragt sie, warum sie mich mitgebracht hat. Sie lacht, sie tanzt, sie tobt vor Freude beim Anblick der aneinander klebenden Tanzpaare. Wieder ein Gejohle und „Arme-hoch-reißen“ bei der Bekanntgabe der Losgewinner. Es gibt zu später Stunde noch Kaffee, Kuchen und Würstchen. Und keiner raucht im Saal. Das alles für 140 Kronen (15 Euro) Eintritt pro Person! Ein Kulturabend erster Güte. Für uns jedenfalls.
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